Editorial

Die in diesem Publikationsprojekt auftretenden Figuren verkörpern Themen und Motive, wie sie im vergangenen Studienjahr im Master Transdisziplinarität und seinem Umfeld modelliert worden sind. “Figur” meint denn zunächst auch einfach nur dies: alles, was sich von einem Grund abhebt, mehr oder weniger deutlich umrissen ist und plastisch in Erscheinung tritt.

Ordnet man die Titel der hier versammelten Beiträge in alphabetischer Reihenfolge, tritt zuerst die Alltagsexpertin aufs Parkett. Sie kann als Exempel für weitere dem Alltag entnommene Figuren gelten, die in der Publikation eine Rolle spielen – die Skiliftallrounderin, die Beklemmung oder das Listenmensch. Sie entstammen kleinen Beobachtungen und ihren Akzentuierungen. Wenn mit dem Grund nicht ausschliesslich der Bildgrund gemeint ist, sondern auch der Hintergrund des hinlänglich Vertrauten, Bekannten, schon Gewussten, das sich gerade aufgrund seiner Selbstverständlichkeit der Aufmerksamkeit entzieht, heben sich Alltagsfiguren im Akt ihrer Konturierung vom Grund des Gewöhnlichen ab und verweisen in derselben Geste auf ihn zurück. Zuweilen gerät dabei der Grund selbst in Bewegung und erweist sich weniger als solide Struktur denn als ein instabiles Terrain, auf welchem sich Konstellationen menschlicher und nichtmenschlicher Akteure bilden. Figuren treten in Figurationen auf – nicht nur Tagetes Eden handelt davon.

Ein mögliches Dazwischen ist im bisher Gesagten bereits angelegt: Figuren bezeichnen dann nicht mehr einfach das sich vor einem Grund Abhebende, sondern ebenso die Relationen, aus welchen sie hervorgehen. Als Figurationen bilden sie sich zwischen ihren Bezugspolen; und diese sind nicht einfach gegeben, vielmehr werden sie in ihren Ver-knüpfungen zugleich geformt und umgeformt. So wird ein Gebirge, das in der Figur der Alpenamöbe als polymorpher Einzeller betrachtet wird, zum vielgestaltigen Wechseltier, und les Mamatierielles vermögen es, Mensch, Tier, Objekt und Material in sich zu vereinen.

Im Master Transdisziplinarität interessieren uns insbesondere solche Figuren, die sich gängigen Zuordnungen entziehen, sich nicht sofort in etablierte Schemata oder herkömmliche Kategorien einordnen lassen. Wer transdisziplinär arbeitet, verschiebt Verfahren, Techniken, Medien und Formate in andere Kontexte und hofft darauf, dass ihre Begriffe und die sie belegenden Sprechweisen gerade dort verhandelbar werden, wo sie nicht unhinterfragt Verwendung finden. Es verwundert daher nicht, dass sich manche der hier ins Spiel gebrachten Figuren gegen übliche Einteilungen wenden, etwa dann, wenn mit dem Besuch eines Erddamms der Versuch unternommen wird, Unterscheidungen zwischen Natur und Kultur zu unterlaufen, oder wenn l’Oreille (cassée) unter anderem die dem Klangereignis zugeschriebene Linearität in Zweifel zieht. Sie widerstehen daher auch dem mitunter synonym zur Figur verwendeten Begriff des Typus, des Stereotypen und Typischen überhaupt. Auch wenn die spezifischen Tätigkeiten einer Figur, ihre Position innerhalb sozialer und institutioneller Konstellationen, ihr charakteristisches Auftreten und ihre Art zu sprechen einer sozialen Klasse zugeordnet und von anderen unterschieden wird, geht es insbesondere um jenen Rest, der sich in bestehende Taxonomien nicht einordnen lässt. So rufen die Schwanenseetänzer zwar klassifizierende Routinen auf den Plan, die sich gegen das subtile idiosynkratische Nachzeichnen ihrer Gestalt dann aber nicht durchzusetzen vermögen. Auch die Schwangeren oder Molekulare Körper befragen begriffliche Konstrukte, gesellschaftliche oder wissenschaftliche Codierungen, die an lebendige Körper gebunden sind. Als Chiffren dienen sie dem analytischen Ordnen des Sozialen und Biologischen, sind aber gleichzeitig auch Weisen des Identifizierens und der Anrufung ‘realer’ sozialer Gruppierungen und einzelner Personen – und für diese keineswegs folgenlos. Den Zwecken solcher immer auch normalisierenden Ordnungssysteme und ihren Folgen wenigstens sporadisch zu entkommen, versuchen die Zielvergessenen.

Damit ist ein zweites Dazwischen umrissen, das Donna Haraway als “materiell-semiotischen Knoten” bezeichnet. Für Haraway sind Figuren keine Darstellungen oder didaktische Illustrationen, sondern Orte, an welchen sich Körper und Bedeutungen gegenseitig formen, wo das Biologische in seiner Verschränkung mit dem Fiktiven, dem Literarischen und Künstlerischen auf die ganze Kraft gelebter Wirklichkeit trifft. Im Schmerzgedächtnis wird die Verbindung von Somatik und Semantik besonders evident. Dass uns gemäss Haraways Definition auch vermeint- lich nebensächliche, aus der kommerziellen Bildproduktion stammende Figuren etwas angehen, zeigt die der Immobilienwerbung entsprungene und beim Wort genommene Scally, wenn sie, verkörpert in Fleisch und Blut, durch unsere Städte geistert.

Figurenspiele sind also nicht nur dort ernste Spiele, wo eine Spielfigur durch den Zug eines oder mehrerer Schachspieler in bedrängte, bedrohliche oder ausweglose Lagen versetzt wird. Sie sind es auch dort, wo ein Pos(ier)er im Nachdenken über die Pose, die sich gleichzeitig als solche zeigt, Authentizitäts- und Wahrheitskonzepte ins Wanken bringt, oder wo die Hochstapler*in als ehemals ausgewiesene Figurierungs-Expert*in, die durch Mimikry-Strategien mit vermeintlich verlässlichen Zeichen sozialer Zugehörigkeit zu spielen wusste und sie damit zu entlarven vermochte, sich in den gegenwärtigen Verhältnissen mit denselben Strategien nur noch in vorgezeichnete Schemata einpasst.

Sie gerät in die Nähe eines dritten Dazwischen, in welchem sich Figuren wie die Gespiegelte/n, die Maskerade und The Dream in Zonen zwischen Selbst- und Fremdbildern oder kulturellen Zwischenräumen bewegen und damit Identitätskonstruktionen in den Blick nehmen. So verheisst das als hybrider Unruhestifter umrissene ethnologische Objekt an kulturellen Schnittstellen De-Figurationen von Selbst- und Fremdzuschreibungen in Gang zu setzen. Berührt ist damit die Überkreuzung der Begriffe Transdisziplinarität und Transkulturalität, die sich im Studiengang immer wieder ereignet. Im Zusammentreffen verschiedener Disziplinen in einem internationalen Kontext verlaufen Differenzierungslinien zuweilen weniger entlang unterschiedlicher geografischer Herkunft, sondern oft entschiedener und einschneidender zwischen anderen Unterschieden, darunter besonders jene zwischen disziplinären Prägungen.

Schliesslich wird mit The Virus eine Figur entworfen, die die grotesken Effekte der aktuellen Krise performt, während The In-Between die Aufmerksamkeit auf sensible Zwischenräume lenkt, die im Zuge von Nähe- und Distanzregelungen im Begriff sind, sich zu verändern. Aufgrund ebendieser Regelungen wird das Figurenkabinett des Master Transdiziplinarität im Juni 2020 anlässlich der Diplomausstellung der ZHdK vorerst als Webseite veröffentlicht und kann danach laufend erweitert werden. Eine erste gedruckte Auflage der dann aktuellen Figurenaufstellung folgt – gleichsam als Tableau vivant des Studiengangs – zu einem späteren Zeitpunkt. Bis zu 50 Ungeduldige können aber bereits jetzt in den zur Wahl stehenden Formaten Rechteck (vert.), Rechteck (horiz.) oder Quadrat ein kostenloses Print-on-Demand-Exemplar bestellen.

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«Figuren dazwischen» ist ein Publikationsprojekt des MA Transdisziplinarität an der Zürcher Hochschule der Künste ZHdK, das anlässlich der Diplomausstellung 2020 gestartet wurde. Es wird laufend erweitert.

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Kernteam Master Transdisziplinarität: Patrick Müller, Basil Rogger, Irene Vögeli (Dozierende); Katja Gläss, Jana Thierfelder, Hannah Walter (Künstlerisch-wissenschaftliche Mitarbeit)

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Figuren dazwischen Figures in-between