Spiegel haben etwas Entgrenzendes. Im Spiegel erkennt man sich selbst, freilich nur indirekt, denn das Spiegelbild ist immer schon etwas Zweites, Anderes als ich selbst. Der Moment der Selbsterkennung ist demnach ein Moment der Verkennung. In seiner Auseinandersetzung mit dem Spiegelbild betonte der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan das “Fiktive” der menschlichen Identitätskon-struktion. Das Spiegelstadium versteht er als eine Identifika- tion im vollen Sinne, d.h. als eine beim Subjekt durch die Aufnahme eines Bildes ausgelöste Verwandlung. Identifikation im Sinne der menschlichen Selbstbewusstwerdung geschieht damit aus entwicklungspsychologischer Sicht nicht über das Erkennen des Selbst im Anderen (Spiegelbild), sondern durch das Erkennen des Nicht-Identisch-Seins-mit-sich.

Obwohl es bereits später Nachmittag und das künstliche Licht noch nicht angestellt worden war, blendete sie der Raum, den sie eben durch einen schweren Vorhang betreten hatte. Es wird an der Dunkelheit der vorangegangenen Räumlichkeiten gelegen haben, die sie eben durchschritten hatte und die einen seltsam unterirdischen Eindruck auf sie machten. Spezielle Lichtund Nebeleffekte hatten in ihr das Gefühl ausgelöst, in einem dunklen Unterwasserbecken zu sein. Auf angenehme Weise verspürte sie jene Geborgenheit und Anonymität, als ob die Welt irgendwo dort oben über der Wasseroberfläche stattfände.

Dieser Raum nun war hell und unruhig. Neben einer Anhäufung von grösseren und kleineren Kunstwerken, die spiegelten und glänzten und die einer nicht gleich ersichtlichen, inneren Logik zu folgen schienen, bewegten sich zahlreiche Besucher um die Objekte herum. Die Besucherin brauchte einen Moment, um sich an das grelle Licht zu gewöhnen.

Inmitten dieses Arsenals aus Kunst- und Menschenkörpern glaubte sie etwas Vertrautes zu erkennen. Sie fühlte es, bevor sie es sah, so, wie wenn wir spüren, dass ein alter Freund, noch bevor wir ihn gesehen haben, hinter uns den Raum betreten hat. Dann tat wenige Meter vor ihr eine Frau einen Schritt zur Seite, und erst jetzt realisierte sie, dass sie sich selbst in einem Spiegel sah.

Ihr Spiegelbild blickte ihr aus einiger Entfernung bewegungslos, aber mit leicht zusammengekniffenen Augen entgegen. “Babe”, rief jemand. Und nochmals, “Babe”. Eine junge Frau, die auf der rechten Seite des Raumes zum Fenster hinausgeschaut hatte, drehte sich jetzt träge um und folgte der Anrufung ihres Partners. Die Beobachterin schaute den beiden hinterher. Sie dachte an ihren eigenen Freund, der sie manchmal “Babe” nannte, was ihr immer das Gefühl gab, dass er nicht sie damit meinte, sondern jemand anderen, eine ehemalige Freundin womöglich, an deren Stelle sie sich nun befand. Sie war lediglich die Platzhalterin für die Person, die er anderen gegenüber als seine Freundin vorstellen konnte.

Im nächsten Moment schien sich unter ihrem Spiegelbild etwas zu regen. In einem unheimlichen Augenblick trat ein Mädchen, das sie bis jetzt noch nicht wahrgenommen hatte, neben ihr Spiegelbild. Erst jetzt verstand die Besucherin, dass das Mädchen nicht vor sondern hinter dem Spiegel stand, der zur Seite in gewöhnliches Fensterglas auslief und den Blick auf den dahinter liegenden Raum freigab. Für die kurze Zeitspanne eines Augenblicks wusste sie nicht mehr, in welcher Zeit ihres Lebens sie sich befand. Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart schienen zu einem einzigen Moment geronnen. In jenem Augenblick war sie das Kind, das zur Seite wegtrat, und die junge Frau, die noch immer wie erstarrt vor dem Glas-Spiegel stand.

Das Kind machte einen Schritt zurück und trat erneut aus ihrem Sichtfeld hinter die verspiegelte Seite. Einige Male wiederholte es dieses Spiel, trat hin und her, suchte den Mechanismus dieses Vexierspiegels zu ergründen, den Übergang von Spiegel zu Glas, an dem sich die eigene Reflexion auflöst. Hinter der Glashälfte, so dachte die Besucherin, musste das Mädchen doch auch sie wahrnehmen. Aber das Mädchen beachtete sie nicht, sondern heftete ihre Augen auch hinter der transparenten Fläche immer nur auf ihre eigene, schwache Reflexion im Glas, so dass sie sich fragte, ob sie selbst gar nicht richtig da war, sozusagen unsichtbar für andere Menschen. Sie lächelte ob dieser widersinnigen Vorstellung und schüttelte leicht den Kopf, als liesse sich das leise Unbehagen, das dieser Idee anhaftete, damit abschütteln. Für einen kurzen Augenblick spürte sie dabei den Blick des Mädchens auf sich.

Später machte sie einen Umweg durch die Dauerausstellung des Kunstmuseums. Im zweiten Stock des Anbaus begegnete sie dem schreitenden Mann. Sie dachte an ihre Mutter, und an den Tag, als sie vor Jahren das erste Mal mit ihr in diesem Museum war und die ausgemergelten Bronzeskulpturen Alberto Giacomettis betrachtete. Sie erinnerte sich daran, wie ihre Mutter sagte, dass “etwas an diesen Figuren zu ihr sprach” und wie sie diese Worte aus dem Mund ihrer Mutter mit Faszination hörte, zu der sich noch etwas anderes mischte, eine Art dunkle Vorahnung, die sie aber nicht näher beschreiben konnte. Noch heute dachte sie bei Skulpturen von Alberto Giacometti immer an ihre Mutter und stellte sich vor, wie sie damals, als sie magersüchtig war, Giacomettis Figuren bewundernd umstreifte, bevor sie für ein paar Monate in einer Klinik untergebracht wurde.

Überhaupt gab es nach dem Tod ihrer Mutter, als sie fürs Studium in die Stadt gezogen war, eine längere Zeit, in der sie sich an vielen der Strassenecken und auf manchen Plätzen vorstellte, dass auch die Mutter hier schon einmal langgelaufen war, dass sie hier Blumen eingekauft, dort den Wocheneinkauf tätigte. Das Bild ihrer Mutter stülpte sich dann über sie, die Zweitgeborene, “ganz die Mama”, die in ihren Töchtern “weiterlebe”. Jetzt war sie es, die an ihrer Stelle am Quartierplatz kurz vor Ladenschluss noch in das kleine Lebensmittelgeschäft huschte, sich ins überfüllte Tram quetschte, den Einkauf zwischen den Beinen, den Blick nach draussen, den Daumennagel auf der Oberlippe.

Sie erinnerte sich an die Angst vor dem Vergessen. Akribisch genau hatte sie versucht, sich die kleinen Gesten, das Räuspern ihrer Stimme, den Geruch ihrer Haare zu vergegenwärtigen, um so dem Beginn ihres Verschwindens, der mit jedem Tag, brutal und unaufhaltsam, tiefer in die Vergangenheit rutschte, etwas entgegenzuhalten.

Als sie wenig später das Museum verliess, war es bereits früher Abend. Mit schnellen Schritten überquerte sie die Strasse zur gegenüberliegenden Tramhaltestelle. Während sie wartete, blickte sie zum Ausstellungsraum im ersten Stock hinauf, in dem die Ausstellungsobjekte die letzten Abendlichter einfingen und nach draussen reflektierten. Im Fenster stand eine junge Frau, die zur Strasse hinausschaute und, zumindest schien es ihr so, direkt auf sie hinabblickte. Nach einem Moment, von dem sie nicht sagen konnte, wie lange er dauerte, und in dem sie sich gegenseitig einfach nur über die Strasse hinweg beobachteten, wendete sich die Frau am Fenster schliesslich langsam und etwas lustlos um, so, als hätte sie jemand, unsichtbar von der gegenüberliegenden Tramhaltestelle aus, im Innern des Gebäudes gerufen.

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(*1993) hat Germanistik und Kulturanalyse an der Universität Zürich studiert und hat sich zwischendurch für Austauschsemester und Praktika mehrere Monate in Amsterdam, Brüssel und München aufgehalten. Nach dem Studium sammelte sie Erfahrungen beim Radio und arbeitete als freie Journalistin für SRF 2 Kultur und die Aargauer Zeitung. Seit 2020 promoviert sie zum Thema “Virtualität und Weiblichkeit” und interessiert sich auch privat mit Leidenschaft nicht nur für das, was, da ist, sondern auch für das, was im modus potentialis auch noch da sein könnte.