Für die einen ist sie eine blühende Augenweide in leuchtenden Sommerfarben. Angelockt durch den aufdringlichen Duft, den sie verströmt, führt sie andere hingegen direkt ins Verderben. Sie richtet über ihr Terrain, nicht jeder kommt unbeschadet an ihr vorbei. Für ungeladene Gäste hält sie ein tödliches Gift bereit und gesundet damit den Lebensraum anderer. In der Rolle der Ablenkerin schützt sie vor gefrässigen Feinden, indem sie sich selber aufopfert. Tagetes trägt viele Gesichter. Ihre Figur ist ein Versuch, deren Stimmen zuzuhören.

Tagetes ist eine farbstarke Sommerblüherin, ihre Farbskala reicht von leuchtendem Gelb über Orange bis zu dunklen Rot-Braun-Tönen. Ihre Vorfahren kommen aus fernen Gegenden in Mittel- und Südamerika, siedelten aber schon vor vielen hundert Jahren in mitteleuropäische Gärten über. Die Herkunft aus heissen und trockenen Gefilden erklärt ihre Abscheu vor winterlichen Temperaturen. Obwohl sie ausdauernd wäre, stirbt sie daher hierzulande beim ersten Frost.

Wie du durch die kalte Luft gleitest, das Federkleid im Widerstand. Ein kühler Westwind. Mit scharfen Augen das Gelände absuchend, nach fahrlässigen Bewegungen, nach kühner Unvorsichtigkeit. Ein ungeordnetes Ornament, in exakt gleich grosse Parzellen eingeteilt, liegt unter dir. Diese Kleinteiligkeit dient zwar der Tarnung, für dein geübtes Auge jedoch ist die kleinste Unregel- mässigkeit erkennbar. Gnadenlos stichst du gegen den Boden, nur um den Einfallswinkel kurz darauf wieder in Richtung Himmel zu spiegeln. Die Beute zwischen den scharfen Kanten deines Schnabels.

Ein unauffälliges Loch, hinterlassen in der Erde. Es ist mir nicht entgangen. Wo der Tunnel hinführt, kann ich nur erahnen. Ein sich weit erstreckendes Netz unter Boden, das euch Schutz gewährt. Ein leises Summen von weit her streift meine Ohrmuschel für eine Millisekunde und lenkt mich ab. Ich schaue ihm nach, aber kann der Tonspur mit meinen Augen nicht folgen. Und plötzlich stehe ich in einem Labyrinth aus Bahnen und Spuren, Gängen und Wegen, die sich über und unter mir kreuzen und winden. Und ich werde mir bewusst, wie eingeschränkt mein Bewegungshorizont ist.

Als ich dich zum ersten Mal sah, erschrak ich über deine gefährlich anmutenden stacheligen Blätter. Du gewannst schnell an Grösse und dein dicker Stängel schoss in die Höhe. Alsbald überragtest du mich und mein Interesse an dir wuchs mit dir mit. Dein ganzer Körper ist mit spitzen Stacheln übersät, was dich unnahbar und mich ehrfürchtig macht. Deine eigrossen ovalen Köpfchen, die von stechenden Hüllblättern umgeben sind, tragen Blüten, die sich jeweils zweizeilig ringförmig ausbilden und nach dem Verwelken von der Mitte aus getrennt nach oben oder unten wandern. In den verwachsenen Blättern in Bodennähe, in denen du Wasser sammelst, verenden Insekten tragisch. Sie dienen dir wohl als Nahrung. Diejenigen, die dieser Falle entrinnen, aber an deinen Stacheln hängen bleiben, nutzt du als Streuer für deine Vermehrung. So viel Hinterlistigkeit imponiert mir.

Landläufig nennt man sie auch Studentenblume oder Sammetblume. Der offizielle Name aber führt auf den etruskischen Gott Tages zurück, der Gott der Weisheit. Man erzählt sich, er sei mit dem Gesicht eines Kindes, aber der Klugheit eines Alten aus dem Erdreich gestiegen, um die Etrusker zu lehren, aus den Omen der Natur die Zukunft zu deuten. Ihr Name vereint das Unschuldige mit dem Weisen wie das Vergängliche mit dem Kommenden.

Durch die Dunkelheit windet ihr euch zahlreich. In einem ständigen Verschlucken der weichen Masse, die in der Folge gemächlich durch euren gesamten Körper transportiert und am Ende als angereichertes Material wieder ausgestossen wird. Eine Masse mit einem Gewicht von mehreren Tonnen verarbeitet ihr auf diese Weise jährlich. Durch verkrustete Schichten bahnt ihr euren Weg und kehrt den Grund von der einen auf die andere Seite. Ihr seid Meister der Verwertung. Dank einem unscheinbaren Körper ohne unterscheidbare Teile, hinten gleich wie vorne, eurer Umgebung und den Umständen perfekt angepasst. Die Sinne stumpf und die kontinuierliche Fortbewegung beinahe lautlos.

Leise Geräusche lassen auf erwachte Körper schliessen, die sich nach der Winterstarre vorsichtig in obere Schichten wagen. Noch hörst du sie von weit entfernt und kannst ihre Nähe nur vermuten. Mit Ungeduld erwartest du ihr Kommen. Deine Füsse in verhärtetem Beton, dein Körper unfähig zu wachsen. Erstarrt, um der Kälte zu trotzen und um keine unnötige Energie zu verlieren. Im Sparmodus wartest du auf die Signale. Sie sind anfangs leise, leicht zu übersehen, und fordern daher deine ganze Aufmerksamkeit. Ein einzelner warmer Sonnenstrahl lässt dich bereits aufhorchen. Du streckst deinen verkalkten Körper in seine Richtung und fängst ihn ein.

Ich schliesse die Augen und betrachte das leuchtende Rot auf der Innenseite meiner Netzhaut, das in deutlichem Kontrast zum dumpfen Grau der letzten Monate steht. Ich atme die schwere Feuchtigkeit kalter Erde ein, die langsam auftaut, und mir wird warm.

Ihr Geruch unterscheidet sich von gewöhnlichen Blüten, die ihren süssen Duft unter die heisse Sommerluft mischen. Sie aber verströmt ein herbes Aroma, das besonders Schnecken in ihren Bann zieht. Betört durch den intensiven Geschmack, lassen diese in ihrer Anwesenheit selbst den pikantesten Salat links liegen. Man könnte sagen, Tagetes opfert sich auf, zugunsten der anderen Pflanzen, die den gefrässigen Schleimern wehrlos ausgeliefert wären. Naturnahe Gärtner wissen seit Langem um ihren Nutzen in der Schädlingsbekämpfung. Neben der Rolle der Ablenkerin übernimmt sie auch die der Apothekerin und hilft ihnen bei der Gesundung des ausgelaugten Bodens. Ihre Wurzeln enthalten Giftstoffe, die für aufkreuzende Schädlinge tödlich sind. Womöglich wird sie daher in ländlichen Gebieten auch Totenblume genannt.

Der Regen lässt das Grün grau aussehen. Braun mischt sich unaufdringlich darunter. Wie Pinselstriche, die sich langsam auf feuchtem Papier auflösen. Dort, wo eure Kinder heranwachsen werden, lasst ihr heute euer Leben. Sie werden ein Vielfaches eurer Zahl sein und ein Vielfaches an Zerstörung hinterlassen. Ihr habt dieses Territorium bereits zu zahlreich erobert. In kürzester Zeit macht ihr alles dem Erdboden gleich. Nicht einmal vor euren Artgenossen macht ihr Halt. Ihr füllt eure Mägen und vermehrt euch willig. In diesem Paradies ohne Feinde spielt ihr mit dem Feuer und denkt nicht daran, die Äpfel nicht zu fressen. Der Ekel über eure Masslosigkeit macht mich wütend und hilflos zugleich. Ungeladene Gäste, niemand mag euch. Wie lange lässt man euch gewähren? Ein schneller Schnitt liesse eure Säfte unvermittelt aus dem weichen Leib quellen. So einfach, so brutal. Wer hat euch hereingelassen? Mein Harmonieempfinden gestört? Ihr denkt nicht daran, eure Beute zu teilen. Habe ich Dank erwartet? In eurer Gier seid ihr schwach und schutzlos. Trotz eurer Überzahl seid ihr meiner körperlichen Überlegenheit ausgeliefert. Am Ende verlasse ich die Grauzone hastig, und später träume ich schlecht.

Anfangs waren wir scheu, aufmerksam und bescheiden. Wir hielten uns diskret zurück und richteten keinen grossen Schaden an. Doch uns in Sicherheit zu wähnen, hatte Folgen. Alsbald wurden wir überzählig und je grösser die Zahl, desto grösser der Übermut. Übermannt von trügerischem Wohlstand und dem Gefühl, das Zentrum der Welt zu sein. Wenn einem keiner etwas anhaben kann. Wenn das Adrenalin durch die Blutbahn pumpt, während man mit den Händen in der Luft dem Abgrund entgegenrennt mit dem sicheren Gefühl, auf einmal fliegen zu können. Im vermeintlichen Mittelpunkt zu stehen, verleitet uns, masslos zu werden, den Kopf auszuschalten und uns mit der Masse treiben zu lassen. Gierig zu sein ist keine Tugend. Gierig sind wir nicht, weil wir zu wenig haben, sondern weil wir nicht teilen wollen. Auf dem Höhepunkt des Treibens wird uns schnell und schmerzlich die Präsenz der anderen klargemacht. Dann will keiner mehr eine Entschuldigung hören, und an Rückzug wird nicht mehr zu denken sein. Einen solchen Exzess bezahlen wir teuer und hinterlassen den Folgenden ein Schlachtfeld.

Und ich weinte ein bisschen und ich war ein bisschen erschrocken, als ich merkte, dass die Dinge anders waren, als ich dachte. In eurem kleinen Leben sind die grossen Veränderungen nicht erkennbar. Ohne eine Erinnerung gibt es nur das Vergangene, auf dessen Leichen das Neue entsteht.

Tagetes ist ein genügsames Lebewesen. Sie gedeiht sowohl mit spärlichen Lichtverhältnissen als auch in der prallen Sonne. An den Boden unter ihren Füssen stellt sie kaum Ansprüche, sie braucht fast kein Wasser und kann sich selbständig mit Nährstoffen versorgen. Ihre satten Farben, in vermeintlichem Gegensatz zu dieser Bescheidenheit, leuchten im Halbschatten noch schöner.

Woher du weisst, wann der richtige Zeitpunkt gekommen ist, um zu entstehen, ist mir ein Rätsel. Es muss eine Art Bewusstsein sein, mit dem du ausgestattet bist. Eine Form von Wissen vielleicht. Auf jeden Fall ist es eine Art Aktion, die dir einprogrammiert ist, nach der du funktionierst, die du fehlerfrei ausführst, aber auch beeinflusst. Bevor die Aktion eintritt, scheinst du eine Entscheidung zu treffen über den Zeitpunkt, den Startpunkt der Ausführung. Die Bedingungen müssen in diesem Moment richtig sein, und du musst davon ausgehen, dass sie in der folgenden Phase richtig bleiben, damit du dich entwickeln kannst. In dir fällt das Wissen sozusagen mit deinem Wesen zusammen, da ein Hirn, im geläufigen Gebrauch des Wortes, nicht existiert. Wenn man diese Entscheidungsfähigkeit als Wissen auffasst, müsste man wohl davon ausgehen, dass die Vernunft in deiner Materie liegt. Wenn man die Vernunft als materialisiert betrachtet, wäre sie dann eine Art kosmische Fähigkeit des Lebenden?
Dein Revier durchkreuzt das meine. Auf deinen nächtlichen Wanderschaften streifst du durch ein Flickwerk von Grenzen, die für dich keine Bedeutung haben. Auch ich würde die Wichtigkeit der Grenzen bestreiten, den-noch gibt es Regeln, an die ich mich halte. Als hätten wir einen Nutzungsplan ausgehandelt, kommen wir uns nie in die Quere. Du hältst dich genauso daran und verlässt unser Territorium jeweils, bevor ich es betrete. Hätte ich keine Fotofallen aufgestellt, wüsste ich kaum von deiner Anwesenheit. Ich erkenne dich wieder an deiner auffallend zerzausten Lunte, ein eindeutiges Merkmal, das dich auszeichnet. Du verhältst dich diskret und schreitest deinen routinierten Weg ab. Wir teilen uns den Ort, ohne uns zu begegnen. Wir wissen voneinander, ohne uns je vorgestellt zu haben. Du riechst mich und ich sehe deine geblendeten Augen auf meinen Aufnahmen. Davon lässt du dich nicht beeindrucken, und umgekehrt störst auch du mich nicht. Wir halten uns an eine Abmachung, die wir niemals trafen. Ein Kommen und Gehen, aneinander vorbei.

Da du dich niemals von der Stelle rührst, brauchst du keinen Schlaf. Unentwegt gräbst du dich durch den Untergrund, schaufelst Wege frei, öffnest Spalten, bildest Formen, strebst aufwärts, stellst die Grundlage für deine Vermehrung bereit und suchst nach Verbündeten. Denn trotz deiner Unbeweglichkeit bist du nicht einsam, sondern im Gegenteil stets in engem Kontakt zu deinen Verwandten. Dein Bewusstsein liegt unter der Erde. Die Sensoren aber sind über deinen ganzen Körper verteilt. Sie holen sich Information über alle Kanäle und Schichten. Und sie leiten diese stets weiter an den Steuerraum unter Tage, wo der Sehsinn keine Wichtigkeit besitzt.

Du bist ein Kommunikationsraum, der unzählige Gehirne miteinander verbindet und miteinander in Verbindung treten lässt. Die Gedankenübertragung funktioniert so über unermessliche Distanzen hinweg. An diesem lautlosen Ort, wo die Dunkelheit dominiert und die Zeit scheinbar stehen bleibt, passieren Bewegungen langsam und unscheinbar. Und doch werden ununterbrochen Informationen ausgetauscht und Kanäle miteinander verknüpft. Die Zeichen werden wahrgenommen, ganz ohne Organe, ohne Augen und Ohren. Die Wahrnehmung ist vom Körper gelöst, verteilt auf kleine Partikel und Organismen, die die Impulse weitertragen. Ein unsichtbares Buschtelefon ohne Streuverlust. Du befindest dich unterhalb der meisten beweglichen Lebewesen, die sich am Tageslicht orientieren. Unachtsam schreiten sie über dich hinweg, während unter ihren Füssen die Schritte als dumpfer Nachhall durch die Synapsen des Riesengehirns geleitet und ausgewertet werden.

Tagetes ist eine Figur, die den gemeinsamen Körper versinnbildlicht, diesen Organismus, der wir sind und den wir alle teilen. Das Stärkere gewinnt hier nicht. Wir sind Teile der anderen, tragen ihre Partikel auf unseren Häuten, riechen unsere Fährten und verdauen einander die Abfälle. Wir wehren einander ab und fressen uns auf, wir stossen Teile unserer Leiber in die Öffnungen der anderen und wir verlieren unsere Grenzen in diesem Teig. Wenn es uns gut geht, dann werden wir grösser, farbiger, dichter und lebendiger. Aber wenn das Gleichgewicht gestört wird, dann gehen wir ein und werden letztlich ein Neues. Wir passen uns nicht aneinander an, sondern wachsen gemeinsam und einsam. Weit entfernt von Harmonie, doch in zyklischem Mehrklang.

Die Gravitation hält mich am Boden und ich schaue dir zu, wie du dich in der Zugluft biegst. Dein Gewicht allein würde dich kaum auf der Erde halten, aber du bist tief verankert und hältst Stand. Man würde meinen, du seist nicht in der Lage, dich selber zu bewegen. Doch wer seinen Körper je starkem Wind ausgesetzt hat, weiss, dass auch Bewegungslosigkeit, der stille Stand, zu einer Bewegung wird. Eine Gegenanimation auf vorhandene Kräfte, die auf dich einwirken. Es muss die Anspannung deiner gesamten Faszien bedingen. Wie viel Stärke in dieser angeblichen Untätigkeit steckt.

Ich halte dieses zarte Blütenblatt zwischen meinen Fingern und streiche über die glatte Oberfläche. Beinahe unmerklich liegt es auf meiner Fingerkuppe und würde bei dem leichtesten Luftstoss davonschweben. Ich halte es vorsichtig gegen das Licht und betrachte die feinen Adern, die die mikroskopisch kleinen Zellen zusammenhalten und mit Wasser versorgen. Das transluzente Hellgelb schimmert im Gegenlicht. Ich möchte es einfangen. Ich lege das Blättchen zwischen die Seiten meines Skizzenbuchs und klappe es behutsam zu. Später werde ich es hervorholen, um mich an den Sommer zu erinnern.

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studiert im Master Transdisziplinarität in den Künsten an der ZHdK. Während der vergangenen Jahre hat sie sich mit verschiedenen Formen des Geschichtenerzählens auseinandergesetzt. Um ihre Umwelt zu erkunden, arbeitet sie vorwiegend mit dem bewegten und gezeichneten Bild. Seit einiger Zeit fokussiert sie sich dabei auf ihren Schrebergarten und versucht dort, die flüchtigen Bewegungen einzufangen und festzuhalten, um über deren Autoritäten und Hierarchien nachzudenken.