Die Scally, auch der oder das Scally, von Scale, dt. Skala. Standardname eines Modellmenschen. In einer Architekturvisualisierung lebend, ein Geist aus der gegenwärtigen Zukunft. Soll Grössenverhältnisse für die menschliche Vorstellungskraft nachvollziehbar machen. Gut gekleidet, schlank und ohne Angst vor Mietkündigung. Vorliebe für spiegelnde Glasfassaden, Bodenlichter und Coffee To Go. Lieblingssong: Shape of You von Ed Sheeran oder acht Stunden New York City Traffic Sound for Sleep.

Ich steige am Elephant & Castle in die U-Bahn um, komme gerade von der Arbeit und bin auf dem Weg nachhause. Ich habe einen Mix mit diesem Lolina-Song auf den Ohren – wie heisst der nochmal? “The River”, etwas mit Oyster Card, eine spannungsvolle Melodie. Ich für meinen Teil liebe meine Oyster-Card. Beim Einchecken in den Londoner Untergrund gibt es dieses einmalige, befriedigende Piepsen und das Lichtlein leuchtet grün, zumindest, wenn alles nach Plan verläuft. Und bei mir läuft IMMER ALLES nach Plan.

Wer ich bin? Ich bin einfach Scally (von Scale), mein Körper ist digital generiert, halb durchsichtig, und ich stehe normalerweise in Architekturmodellen herum. Meine Aufgabe ist es, den noch unrealisierten Arealen und Gebäuden der städteplanerischen Zukunft Leben einzuhauchen. Denn: Wo Menschen sind, ist auch Leben, sind auch Mieterinnen, Serviceangestellte und Konsumenten, ist auch Arbeit, Hoffnung und Kultur. Der britische Künstler James Bridle nennt mich Render Ghost, in Anlehnung an meine geisterhafte Fähigkeit, an verschiedenen Orten gleichzeitig aufzutauchen. Es kann vorkommen, dass ich einer jungen Frau auf den Marco-Polo-Terassen in der Hafencity Hamburg zuwinke, während ich gleichzeitig in der Europaallee in Zürich auf einem verglasten Balkon in einem fiktiven Jahr 2020 stehe. Solche Dinge passieren. Alles eine Frage der Datenbank. Wenn sich alle Architektinnen an derselben Datenbank bedienen, um ihre visuellen Zukunftsvisionen mit Menschen zu dekorieren, ist das ja nicht mein Problem.

Ich bin also beim Einchecken in den Nahverkehr am Knotenpunkt Elephant & Castle, eine Gegend, die seit 2025 über 5000 neugebaute Wohngelegenheiten verfügt, von denen rund ein Viertel bezahlbar ist.1 So eine dumme Formulierung eigentlich: Wenn man alles kaufen kann, ist auch alles bezahlbar. Weil ich hier gut gekleidet und zielstrebig auf die neuen Rolltreppen zusteuere, fällt es schwer, sich den Ort so vorzustellen, wie er vor mir aussah. Das Coronet Theatre, das noch bis 2017 hier stand und in seinem 129-jährigen Bestehen Künstlerinnen von Charlie Chaplin bis The Fall, Alicia Keys und Eksman beherbergte, hat sich in Luft aufgelöst – oder besser in Staub und Dreck.

Das Fact-Magazin bezeichnete den Abbruch der Konzerthalle 2015 als “die neuste Attacke auf die Klublandschaft der Hauptstadt”.2 Ich denke aber, der Coronet-Direktor Richard Littman fand das gar nicht so schlimm, denn im selben Artikel äussert er sich optimistisch: Lieber als gegen Veränderung anzukämpfen, wolle man sich auf die langjährige Geschichte fokussieren. Die Schliessung des Klubs solle man als Anlass nehmen, das letzte Jahr seines Bestehens als das grösste und beste zu feiern.3

Ich finde, es ist wichtig, das Beste aus allem zu machen. Vielleicht habe ich zum Beispiel heute einen schlechten Tag, aber ich bin am Morgen trotzdem zur Arbeit gegangen. Vielleicht stinke ich aus dem Mund, aber ich habe ein Minzbonbon in der Hosentasche. Vielleicht würde ich lieber gleich ins Café Oto zu einem Tribute-Konzert für Ras G gehen. Aber ich habe mich trotzdem erstmal mit dem mir unbekannten Render Ghost vor mir verabredet, dem ich auch hier zuwinke (ich winke ja überall und immer allen zu), um in einem veganen Burgerladen essen zu gehen, wo Ras G übrigens auch über Spotify läuft.

Was mir wichtig ist? Wenn ich sehe, wie mir die Leute aus dem Jahr 2020 beim Vorübergehen einen Blick zuwerfen, wie ich da so auf einem riesigen Plakat an einer fensterlosen Häuserwand hänge, dann überkommt es mich manchmal. Ich winke auch ihnen zu und zeige damit, dass ich doch eigentlich gar nicht so viel anders bin als sie. Ich strahle soviel Tätigkeit und Gesundheit aus, da fallen die in meiner Umgebung weggefallenen Figürchen mit Hautausschlag, solche ohne Wohnung oder mit nicht funktionierender Oyster-Karte gar nicht auf.

Was mir persönlich jedoch sehr fehlt, ist eine aufregende akustische Umwelt. Trotz zunehmend immersivem Charakter von Architekturvisualisierungen wie zum Beispiel die aufwändig produzierten Animationen des umstrittenen Elbphilharmonie-Baus,4 leben wir Render Ghosts eigentlich fast immer in stillen Welten. Die akustische Vorwegnahme der Zukunft bleibt in der öffentlichen Wahrnehmung weiterhin hinter der visuellen zurück. Kein Vogelgezwitscher, kein Stimmengewirr, kein Signalschiffshupen, kein Autolärm, kein Fabrikhämmern, kein Pferdegetrappel, kein Muezzinruf oder Glockenschlag. Alles still, alles muss man sich selbst erst über Youtube anmachen – zehn Stunden Wasserfall, acht Stunden Verkehrskreuzung, eine Stunde Herzschlag-Beat.

Eine der wenigen öffentlichen Soundquellen ist wie ich eine körperlose Stimme, die seit 2016 für mehr Sicherheit im britischen Verkehrsnetz sorgt. Das “If you see something which doesn’t look right – say it!” und das darauf folgende “See it. Say it. Sorted” prägen sich ins Gedächtnis ein wie das Piepsen der Oyster-Karte beim Ein- und Auschecken. Nina Power, eine andere mir unbekannte Render Ghost-Freundin, hat diese Stimme ganz gut als eine Mischung aus bürokratischer Sachlichkeit – und als sanft-kontrollierende Haltung einer unsichtbaren Mary Poppins beschrieben.5

Michael, Jane, if it doesn’t feel right, we want to hear from you. Let us decide if what you have seen or what you know is important. If someone being somewhere they shouldn’t be, for example trying to get through a door marked ‘No Entry’. – Say it. See it. Say it. Sorted.

LOL, wenn ich daran denke, wie ihr euch von einer körperlosen Mary Poppins dazu verleiten lässt, selbst zu einer körperlosen Stimme zu werden, die aus irgendeiner von der Regierung eingerichteten Meldezentrale eine Nachricht mit den Worten “PASSENGER TALKS WITH UNAUTHORISED LOCAL ACCENT” sendet. Und dies nur, weil jemand ebenso körperlos irgendwo hingeschrieben hat, dass ihr alle eure Rolle zu spielen hättet und man auf eure Augen und Ohren angewiesen sei, wenn es darum gehe, den Nahverkehr sicher zu halten.6 Diese eintönige Stimme rhythmisiert meinen Alltag so sehr, dass ich sie nur mehr richtig wahrnehme, wenn ich mich daran erinnere. Ich habe diese Stimme so verinnerlicht, dass ich mittlerweile glaube, selbst diese Stimme zu sein. Ich fürchte sogar, dass ich nicht nur als Render Ghost aus der Zukunft in eurer Gegenwart SICHTBAR bin, sondern auch als diese körperlose Stimme zu euch SPRECHE: Ich glaube, ich BIN diese Stimme!

Wenn ich mich anschaue und dann euch, so lebe ich ja vor, wie ihr irgendwann zu leben habt. Und die Architektur um mich herum tut ebenfalls ihr Bestes dazu. Egal ob London, Shanghai, Lagos oder Zürich: Glas und Spiegelung sind das A und O. Modell und Gegenwart scheinen zum Selben zu verschwimmen. Genauso wie ich geniesst auch ihr “feine Speisen im Bord Bistro”, und genauso wie ich lässt auch ihr euer “Gepäck nicht unbeaufsichtigt stehen”. Ich spreche zu euch, als gäbe es keinen Unterschied zwischen mir und euch.

Aber doch doch, diesen Unterschied gibt es ja. Ich habe in einem Buch über Londons Rap-Szene7 etwas gelesen, das mich nicht mehr loslässt. Im Buch werden zwei Teenager beschrieben, die im Bus auf der Fahrt von Streatham nach Tooting die Lautsprecherstimme nachahmen, welche die baldige Ankunft an der Haltestelle Tooting Bec Lido ankündigt. Während das eine Mädchen die Frauenstimme und ihr Queen-Englisch fast perfekt nachahmt, wiederholt ihre Freundin das hochenglische “Lido” von Tooting Bec Lido in ihrer eigenen Sprachfärbung, dem verbreiteten lokalen Dialekt der Gegend. Ich denke, das ist erstmal nur ein kleiner Spass. Aber der Autor hat Recht mit der Feststellung, dass die Freundin hier etwas richtiggestellt hat. Sie hat an der Realität eine kunstvolle Korrektur vorgenommen.

Nachdem ich hier endlich in die U-Bahn eingecheckt haben werde (was nie passieren wird), wird mir mein unbekannter Burger-Freund beim Essen eröffnen, dass Ambient die Musik der Zukunft sei. Wenn ich mich an die Jahre 2017 bis 19 erinnere, würde ich ihm sogar beipflichten. So viele Ambient Reissues oder Ambient Events zum Abhängen.

Mein Burger-Freund stellt sich mit dem Namen Brian Eno vor und ist der Künstler hinter einer App namens Reflection, die 2017 auf den Markt kam. Die App generiert eine endlose, ständig variierende Version eines einstündigen Eno-Tracks. Es soll eine Klanglandschaft entstehen, die sich flexibel den Bedürfnissen der Konsumentin anpasst. Es geht meinem neuen Render Ghost-Freund darum, “Musik zu machen, die unendlich ist, die so lange andauert, wie du es möchtest”.8

Ich habe den Mund noch voll mit Rote Beete-Sprossen und kann Brian nicht sofort meine Gedanken dazu mitteilen. Ich denke aber, dass das ganz schön visionär war für 2017. Schliesslich wäre das der perfekte Soundtrack für meine auf die Ewigkeit eingefrorene Pose an der Elephant & Castle Station. Alles verändert sich, alle um mich herum deuten Bewegung an, aber bewegen sich nicht. Alles basiert auf den exakt gleichen Daten, die nur in anderer, nie gleicher Abfolge aneinandergereiht werden. Alles dieselbe Datenbank, an der sich alle bedienen. Ich bin nur deswegen so gespenstisch, weil es mich unendlich gibt. Aber eben, nicht mein Problem – “meldet es doch!”, “say it!”

Anmerkungen

  1. elephantandcastle the-benefits-2
  2. factmag coronet elephant and castle closing in 2017
  3. ebd.
  4. Siehe für die Renderings z.B. den ARTE Doku Film Die Elbphilharmonie – von den ersten Skizzen bis zur Eröffnung von Thorsten Mack und Annette Schmaltz (2017).

  5. “It tells us which tube station is coming up next in a firm, bureaucratic way such that we feel reassured we know where we’re going, but also faintly controlled and guided by some sort of invisible Mary Poppins.”
  6. Bramwell, Richard: UK Hip-Hop, Grime and the City: The Aesthetics and Ethics of London’s Rap Scenes, 2015. New York: Routledge, S. 146

  7. generativemusic.com

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, geboren 1989 in Luzern (CH), studiert seit 2017 im Master Transdisziplinarität an der ZHdK. Sie arbeitet als Performerin, Autorin und Theatermacherin. Seit 2012 realisiert sie Performances mit ihrem Kollektiv DIE SOZIALE FIKTION in Bremen, Leipzig, Basel und Hildesheim. 2019 hatte ihr gemeinsames Stück “Render Ghosts” Premiere, das auf der Auseinandersetzung mit den Modellmenschen in Architekt-urvisualisierungen basiert. Nebst ihrer Arbeit mit DSF entwickelt sie performative Lecture Formate, die sowohl an wissenschaftlichen Tagungen, in Kunsträumen oder Clubs aufgeführt werden. Als Autorin ist sie u.a. für das Musik- und Kulturmagazin zweikommasieben tätig. In Zusammenarbeit mit Anta Helena Recke und Maxi Menja Lehmann realisierte sie 2019 “Die Kränkungen der Menschheit”, eine Stückentwicklung an den Münchner Kammerspielen. Ihre Arbeiten sind motiviert von einer Faszination für den Zustand der Verunsicherung und des Verunsichert-Seins. Sie kreiert Vorstellungsräume, zwischen Humor und Ernsthaftigkeit, Persönlichem und Gesellschaftlichem, zu denen sie ihr Publikum einlädt. Denn: Ohne Publikum ist alles doof.