Die Zielvergessenen – das sind jene Zeitgenossen, die sich nicht scheuen, an den vermeintlichen Machtzwängen der Normalität vorbei zu schlendern. Nicht immer, aber immer wieder mit gelassenem Lächeln und Lust auf die Erkundung verborgener Möglichkeitsnischen der Gegenwart. Zielvergessenheit als Gegenwärtigkeitstugend zu kultivieren ist ein Ziel, an dem der Autor regelmäßig scheitert. Nichtsdestotrotz ist er überzeugt, dass es lohnt, immer wieder zu versuchen, das zu vergessen, was man sucht, und dabei vielleicht eine Ver-Suchung zu finden.

“Auf diesen Routen trieb ich mich umher und musste in jedem Passanten den Eindruck eines ziellosen Schlenderers erwecken. Und doch war ich, strenggenommen, nicht ziellos. Ich glaubte ein Ziel zu haben, aber ich hatte das Ziel zu meinem Unglück vergessen.”1

Das Wort “Schlendern” kann positiv wie negativ konnotiert sein: als ein “gemächliches, entspanntes Gehen oder Spazieren”, oder aber als ein “Herumtreiben”. Es kann eine gewisse Gelassenheit markieren, oder aber ein dubioses Vagabundieren. Siegfried Kracauers in den 1920er Jahren selbstdiagnostiziertes “Unglück”, sein Ziel vergessen zu haben – obwohl er “strenggenommen” nicht ziellos sei, – wirkt fast so, als müsse er sich rechtfertigen dafür, nicht nur “blosser” Schlenderer zu sein, um nicht als Herumtreiber zu gelten, sondern auch in seiner Zielvergessenheit nicht sinnlos am Weg.
Was würde sich aber ändern, wenn die Situationseinschätzung anders “gepolt” würde: es also ein Glück wäre, dass man zielvergessen Schlendern kann? Anders gefragt: Was böte eine gelassen-schlendernde Zeitraumpraxis, ein im engen Sinne des Wortes vollzogener Müssiggang, für den man nicht verschämt, sondern stolz einsteht?
Robert Walser formuliert diese Position in gewisser Weise in seinem Roman “Spaziergänger”, wenn er sagt:
“Eine arbeitergefüllte und arbeitsreiche Metallgiesserei verursachte hier links vom Landschaftsweg auffälliges Getöse. Bei dieser Gelegenheit schäme ich mich aufrichtig, dass ich nur spaziere, wo so viele andere schuften und arbeiten. Ich schufte und schaffe vielleicht dann zu einer Stunde, wo alle diese Arbeiter Feierabend haben und ausruhen. Ein Monteur auf dem Fahrrad, Kamerad vom Landwehrbatallion 134/III, ruft mir beiläufig zu: ‘Du spazierst wieder einmal, scheint mir, am heiterhellen Werktag.’ Ich grüsse ihn lachend und gebe mit Freuden zu, dass er recht hat, wenn er der Ansicht ist, dass ich spaziere. ‘Sie sehen es mir an, dass ich spaziere’, dachte ich im stillen und spazierte friedlich weiter, ohne mich im geringsten über das Ertapptwordensein zu ärgern, was ganz dumm gewesen wäre.”1

Auch wenn in der Rede vom “Ertapptwordensein” noch ein Rest des Zweifels durchklingt, der an Kracauers “Unglück der Zielvergessenheit” erinnert, ist Walsers Verhältnis zu möglicher Kritik am Spazieren “am heiterhellen Werktag” klar: Es wäre “dumm”, sie ernst zu nehmen. Diese positiv gefasste Beurteilung eines zielvergessenen Weltverhältnisses schreibt dem Spazieren eine spezifische Qualität ein, deutet an, dass auch am gewohnten Zweckdruck des Werktags vorbei gangbare Wege entstehen können, die es ermöglichen, am Gewohnt-Gesollten zielvergessen vorbeizuschlendern.

Eine Figur, die Mitte des 19. Jahrhunderts als Prototyp der beschriebenen Haltung zur Welt auf die soziale Bühne trat, war der Flaneur. Er markierte eine neue, mit der Etablierung einer genuin modern-urbanen Kultur verbundene Rolle, mit der die sich zunehmend behauptende bürgerliche Gesellschaft mit ihrer ebenso zunehmend disziplinierenden Werktagsorientierung provoziert werden konnte und wurde. Der Flaneur nimmt sich heraus, seine Aufmerksamkeitsökonomie und Tatkraft nicht an der Opportunität mit Blick auf das “Man” gesellschaftlicher Wert- und Zielorientierungen auszurichten. Er stellt vielmehr sein zielvergessenes Sein aus, indem er sich auf das einlässt, was die Welt von sich zeigt, wenn der Blick auf sie eben nicht gewohnter Zielgerichtetheit unterworfen wird.
Zielvergessenheit ist ein Zustand, der sich von der Ziellosigkeit unterscheidet. In der Zielvergessenheit ist das Ziel in seiner (aktuellen) Abwesenheit als Vergessenes dennoch anwesend; in der Ziellosigkeit hingegen ist schlicht kein Ziel vorhanden. Der anwesende “Zug” auf das abwesende Ziel hin bewegt den Flaneur. Er ist der “Priester des genius loci”, er sucht sich die (Welt)Bilder, “wo immer sie hausen” – wie Walter Benjamin in einer Rezension zu Franz Hessels “Spazieren in Berlin” von 1929 bemerkt, – und eben nicht nur da, wo man sie zu finden gewohnt ist. Genau genommen “sucht” er weniger nach etwas, als dass ihn etwas findet: das nämlich, was sich dies- und jenseits der Erwartbarkeit zeigt, wenn man sich von ihm finden lässt.
Der Flaneur disponiert sich durch aktive Passivität (oder passive Aktivität) zur Weltoffenheit, dafür, dass die Welt sich ihm bemerkbar machen kann – er kultiviert eine gelassene Aufmerksamkeit gegenüber der Gegenwart. Eine Aufmerksamkeit, die nicht darauf zielt, die Welt durch kategorisierte Weisen des Erkennens zum Objekt der Erkenntnis zu machen, sondern als deutungsoffenen Raum zur Erkundung möglicher Wirklichkeiten ‚sein lässt’. Ein Raum, den zu erschliessen das Durchdringen der sachzwängenden Erkenntnisgrenzen erfordert, die die Zeitläufte in eingeschliffene epistemische Bahnen kanalisieren.
Der Flaneur ist eine “bewegte” Figur, eine Figur im Bewegt-Sein: Er lässt sich treiben (“il fait la planche”, wie es im Französischen heisst). Er ist, wie Walter Benjamin es formulierte, “auf abschüssigen Strassen” unterwegs, aber er stolpert eben weder schwerkraftbedingt vor sich hin, noch schreitet er vorgängig anberaumte Wege ab. Sein Verhältnis zur Welt ist eines der Uneingestelltheit und Ungebundenheit, das dadurch möglich wird, dass er die je geltenden Möglichkeitsbedingungen einer Gegenwart abklopft und an ihnen horcht. Er lässt sich nicht von der charmanten Evidenz der Normalitäten verführen. Indem sich der Flaneur der Bewegung, dem Strömen der Gegenwart überlässt, ohne auf Dauer in diese abzutauchen, wird er zum Zeitgesellen, er gesellt sich zum Momentanen und nährt sich aus dessen Flüchtigkeit.

Der Flaneur, der seit mehr als einem Jahrhundert als je nach Bedarf gefügig formbares, stets sympathisch-widerständiges Rollenmodell für Unangepasstheitsgesten herhalten muss, mag in dieser Form inzwischen zu Recht etwas abgehalftert wirken. Die durch ihn markierte Aufmerksamkeitsartistik im Modus der Zielvergessenheit im oben beschriebenen Sinne ist deshalb aber keine obsolete Expertise – solange sie nicht zu einer schematischen Geste des “Gegen” im Namen des “Anderen” erstarrt und zeitgenössisch gedeutet wird.
Anlässe dazu, diese Expertise ins Werk zu setzen, gibt es reichlich: Eine die Gegenwart prägende, weitgreifend unwidersprochene Akzeptabilität der Zweckverdeckung von Möglichkeitshorizonten, ein standarisiertes Daseinsdesign und ein zum kollektiven Bedürfnis gediehenes, allgegenwärtiges Kulturrauschen sind zum eigenwillig alternativlos scheinenden Tragwerk gesellschaftlicher Normalität geworden. In jüngerer Zeit wurde zudem die reichlich unbescheidene Inanspruchnahme jener Allmacht salonfähig gemacht, die unter dem Titel “Anthropozän” das Weltgeschehen zum gestrigen wie morgigen Machsal der Menschheit erklärt. Und in Formeln wie der, dass uns nun die Natur unwirsch die Grenzen markiere, paust sich letztlich auch nicht mehr durch als der Wunsch nach funktionalen Äquivalenten für die Orientierungsfunktion abhanden gekommener strafrichtender Götter – Anthropozän hin oder her.
Glücklicherweise braucht man sich aber um die Gegenkräfte kontingenzkompetenter Zeitgenossenschaft keine allzu grossen Sorgen zu machen. Denn es gibt sie in lebendiger Vielfalt, aller mit pessimistischem Wohlfühlfaktor gefüllten Narrative des Kulturverfalls zum Trotz. Überall dort nämlich, wo Zielvergessenenheit nicht als generalisierter Selbstzweck hochgehalten wird, sondern in Form eines immer wieder einmal lustvollen Vorbeischlenderns an den Erwartungskräften allgegenwärtiger heiterheller Werktage konkret praktiziert wird. Wo die populären Propheten des Unheils den misanthropischen Quellcode ihrer disziplinarischen Erlösungskonzepte auf den Tisch zu legen genötigt und ihre ausgreifenden Definitionsmachtansprüche auf Geltungsentzug gesetzt werden. Wo Dissonanzen im Klangraum des allzu Triftigen gestiftet und Zukünfte in distanzschöpfend verspielten Artikulationen verhandelt werden – und wo Pragmatismus nicht als Nutzenfunktion zur Verfestigung des Bestehenden gesehen, sondern als tatfreudige Skepsis an der je aktuellen Möblierung von Gegenwart betrieben wird. Gemeint sind damit keineswegs nur (oder vorrangig) die üblichen Verdächtigen wie die kritisch-engagierten Künstler_innen oder Geistesarbeiter_innen. Es sind gleichermassen jene, die durch Rekombinationen von Prioritätshierarchien, Relevanzansprüchen und Lebensformmodellen ohne grosse Geste Welt in ihrem konkret überschaubaren Handlungsfeld anders machen: nicht immer und nicht im Modus der Purifikation im Namen großer Gegenerzählungen, sondern durch eine allmähliche, gelassene Transformation von Alltäglichkeit, die sich immer wieder auch in einer Werktagsnormalität wohlfühlen darf.
Anders gesagt: Wo unterschiedlichste Menschen in unterschiedlichsten Kontexten immer wieder in poröser Ernsthaftigkeit zielvergessen durch die Gegenwart surfen, anstatt durch sie zu marschieren – ohne dabei zu vergessen, dass Zielvergessenheit als Haltung zur Welt wichtig, aber dann doch nicht alles ist.

Anmerkungen

  1. Kracauer, Siegfried: “Erinnerung an eine Pariser Strasse”, in: Strassen in Berlin und anderswo, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2009 [Orig. 1930], S. 9–15.

  2. Walser, Robert: Der Spaziergang, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985 [Orig. 1917], S. 18.

  3. Benjamin, Walter: “Die Wiederkehr des Flaneurs”, in: Ges. Schriften Bd. III, Frankfurt/M.:
    Suhrkamp, 1991 [Orig. 1929], S. 194–199.

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(*1972) ist Philosoph und Kulturmanager. Seine theoretischen Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen der Kulturphilosophie, der angewandten Ästhetik und der Konzeptualisierung von Wirkungsdynamiken künstlerischer Denk- und Verfahrensweisen in ausserkünstlerischen Kontexten. Nach langen Jahren in der Hochschullehre betreibt er nun das berg_kulturbüro in Berchtesgaden (www.bergkulturbuero.org), ein Konzeptlabor und eine Begriffschmiede für die Potentialentwicklung alpiner Kulturressourcen. Er ist zudem Teil des think& do-Tanks creativeALPS (www.creativealps.org) und verfasst regelmässig bergorientierte Textsorten diverser Art.