In jener Stadt sprachen die Menschen eine Sprache, die wir nicht ansatzweise verstanden. Deshalb stellte man uns eine Übersetzerin zur Seite. Alles, was während unserer Arbeit gesprochen wurde – und wir haben von frühmorgens bis spätabends gesprochen –, ging durch die Übersetzerin hindurch.

Wir sitzen zu dritt in einem Raum. Die Übersetzerin, eine der Performer*innen und ich. Die Performerin hat ihre Arme übereinander auf den Tisch gelegt. Sie schaut mir in die Augen während sie spricht. Ich höre ihre Stimme, sehe wie sie ihre Hände, ihren Mund bewegt. Ab und zu wendet sie ihren Blick ab – vermutlich um Worte zu suchen – schaut mich wieder an und spricht weiter. Die Übersetzerin beobachtet und sammelt alle Wörter der Performerin ein. Ich brauche mich nicht um Wörter zu kümmern.

Einmal blickt die Performerin mich an und lächelt, indem sie einen Mundwinkel etwas weiter nach oben zieht als den anderen. In ihren Augen liegt ein Schalk – schwierig zu sagen, an was genau ich den Schalk erkennen kann. Aber da liegt ein Schalk, als müsste sie mit ihren Augen den Inhalt der eben ausgesprochenen Worte entschärfen. Das weiss ich jedoch nicht mit Gewissheit. Ich habe keine Ahnung, welchen Inhalt ihre Sprachgeräusche bilden. Ich kann keines ihrer Worte vom nächsten unterscheiden. Und doch habe ich ein aufrichtiges Bedürfnis zurückzulächeln. Auch wenn ich kein Wort verstehe, so habe ich doch irgend etwas, das mich zum Lächeln bringt, verstanden.

Die Übersetzerin übersetzt mit ruhiger Stimme. Sie fügt alle Einzelteile wieder zu einem Ganzen zusammen. Die Stelle mit dem Schalk übersetzt sie mit besonderer Sorgfalt. Sie blickt mich dabei kurz an, um sich zu vergewissern, dass ich verstanden habe. Ich lächle nochmals – diesmal wegen dem Inhalt. Die Performerin lächelt ebenfalls. Womöglich weil ich den Schalk den passenden Worten zuordne.

 

Ich mochte, wie wir nebeneinander legten, was normalerweise übereinander liegt. Die Übersetzerin gab jeder Bewegung, jedem Geräusch und jedem Wort seinen eigenen Raum. Erst liess sie uns hören und schauen und im nächsten ruhigen Moment legte sie behutsam den für uns zubereiteten Inhalt der Worte dazu. Es beunruhigte uns nicht, dass der Inhalt für eine Weile von den Bewegungen und Geräuschen getrennt wurde. Wir wussten, dass die Übersetzerin für uns hin und her trug, was fehlte. Mehr noch: All die kleinen Zögerer, Versprecher und holprigen Formulierungen, die unsere Verletzlichkeiten verrieten, nahm sie zu sich und gab acht, dass beim Stolpern niemand hinfiel. Wie immer ich auch die Worte für mein Gegenüber formulierte, ihre Übersetzung klang ruhig und umsichtig – so, als wäre all das, was wir zu sagen hatten, Wert, gesagt zu werden.

 

Ich habe der Übersetzerin bedingungslos vertraut. Ich habe darauf vertraut, dass sie uns bis in die Tiefen versteht und jedes Wort, jedes Augenzwinkern und jedes Zögern mit Respekt und Sensibilität entgegennahm und in unserem Sinne sortierte und aussortierte. Ich wusste nichts über ihr Leben, das sich bis vor Kurzem siebentausend Kilometer von meinem entfernt abgespielt hatte. Aber es musste Konstellationen gegeben haben in diesem Leben, die dazu geführt hatten, dass die Übersetzerin nicht nur Worte, sondern auch alles dazwischen verstehen konnte, so dass ich ihr genau an diesem Ort und in diesem Moment bedingungslos vertrauen wollte. Und das war eine wirklich ausserordentliche Begebenheit.

 

Je näher wir der Premiere kamen, desto mehr Menschen redeten. Musiker*innen, Techniker*innen, Veranstalter*innen, Sponsor*innen, Journalist*innen, Animator*innen. Jede*n einzelne*n übersetzte die Übersetzerin. All die Bewegungen im Gesicht, die Rötungen der Haut, die verschiedenen Timbres in den Stimmen – alles nahm sie zu sich. Innerhalb von Hundertstelsekunden entschied sie, was in diesem Moment für diesen Ort  und für diese Menschen relevant sein würde und was nicht. Alles verpackte sie in sorgfältig ausgewählte Worte und gab diese weiter. Ich weiss nicht, wohin sie legte, was sie aussortiert hatte. Aber ich weiss, dass zu diesem Zeitpunkt alles schnell gehen musste. Technische Probleme, Probeanweisungen, Fernsehinterviews, grosse Fragen, kleine Fragen, Ängste, Komplimente, Witze, Missverständnisse. Es blieb wenig Zeit, um allem gebührend Raum zu geben und uns auf die verschiedenen Körper mit ihren Bewegungen und Klängen einzulassen. Umso mehr konzentrierten wir uns auf die immer noch kompetent gewählten Worte der Übersetzerin. Wir hatten zu diesem Zeitpunkt keine Wahl oder konnten zumindest keine erkennen. Die Übersetzerin vermutlich auch nicht. Sie machte weiter bis zum Schluss. Bis zur Dernière.

Danach fiel sie um.

 

Nach dem Applaus der Dernière, als die Tribüne schon leer war, verlor sie das Gleichgewicht und fiel einfach um. Sie fiel hinter ein Auto, das gerade zurückrollte, um das Gelände zu verlassen. Wir alle schrieen. Als das Auto zum stehen kam, lag die Übersetzerin bis zu den Hüften darunter. Vermutlich erschöpft von all dem, was durch sie hindurch gegangen war. Jeden Tag. Das war zu viel. Das weiss ich jetzt.

bewegt sich in ihrer künstlerischen Arbeit zwischen Performance, Theater und kollaborativen Experimenten. Sie studiert im Master Transdisziplinarität an der ZHdK und lebt in Zürich.