Der Erddamm ist ein in der alpinen Landschaft lokal situiertes Wesen, das zur Art der Absperrwerke und der Familie der Talsperren gehört.
Er unterscheidet sich jedoch deutlich von seinen nächsten Verwandten, den Staumauern. Er ist sowohl Landschaft als auch gebaute Infrastruktur, eine hybride Züchtung zwischen Kultur und Natur. Aber nicht nur sein uns Touristen erscheinendes Bild ist hybride. Auch seine innere Materialität zeugt von seiner Hybridität: Seinen kolossalen Stützkörper aus steinigem und erdigem Material findet man in seinem natürlichen Lebensraum der Alpen nie ohne darunterliegende Betonbauten.

Um 09:12 Uhr steigen wir aus dem Zug in Göschenen.
Wir laufen direkt zum Bahnhofskiosk.
Es ist Sonntag, daher bleibt die Türe verschlossen und der Kiosk dunkel.
Jiaxi meint, dann müsse sie halt von Bananen und Schokolade leben.
Ich biete ihr für später Karotten und Darvida aus meinem Proviant an.

Wir laufen los, über den Postautokehrplatz die Treppen hoch.
Zum Glück haben wir beide kurze Hosen angezogen:
Es ist jetzt, am frühen Morgen, schon über 20 Grad warm und der Himmel blau und wolkenlos.
Der Weg steigt sanft an, wir beginnen leicht zu schwitzen.
Eine Zeit lang laufen wir im angenehm kühlen Wald, weit oberhalb des Flusses. Dann führt uns der Wanderweg entlang der Göschenenreuss.
Das Rauschen des kleinen Flusses kühlt unsere Gedanken.
Unter einer Gruppe von Bäumen halten wir an und lauschen, wie das kühle Wasser an uns vorbei ins Tal rauscht.

Es ist der 30. Juni 2019. Wir sind auf dem Weg zum Erddamm.
Das Wanderwegzeichen am Bahnhof meinte, dass wir rund vier Stunden bis dorthin brauchen würden.

Eine Talsperre ist ein Absperrbauwerk, das in einem Tal ein natürliches
Fliessgewässer zu einem Stausee aufstaut. Neben Staumauern aus Beton sind auch Staudämme Teil dieser Familie. Das Lexikon der Geowissenschaften schreibt über den Staudamm folgendes:1

Staudamm – Talsperre, deren Stützkörper entweder als Erddamm aus bindigem oder rolligem Material oder als Felsdamm aus gebrochenem Fels oder natürlich anstehendem Steinmaterial lagenweise geschüttet wird. Wesentlich ist, dass der Stützkörper so gestaltet wird, dass Ausspülungen, die die Standsicherheit gefährden könnten, nicht möglich sind. […] Wo örtlich feinkörniges Material mit geringer Durchlässigkeit (Lehm, Ton) ansteht, sind Staudämme mit natürlicher Dichtung die wirtschaftlichste Lösung. […] Wo natürliches Dichtungsmaterial nicht vorhanden ist, werden Staudämme mit künstlichen Dichtungen versehen. […] Als Material wird in erster Linie Asphaltbeton verwandt, bei Innendichtungen auch Stahlbeton. […] Aussendichtungen werden nach Fertigstellung des Dammes sandwichartig in mehreren Lagen aufgebracht, wobei über eine dazwischenliegende Drainageschicht etwaig eingedrungenes Sickerwasser gesammelt und abgeleitet wird.

Unabhängig von der Bauart des Dammes ist der saubere Anschluss der Dichtung an den wasserundurchlässigen Untergrund von besonderer Bedeutung. Der Übergang von der Dammdichtung zur Untergrunddichtung wird durch eine Herdmauer aus Stahlbeton gebildet, die bei grösseren Sperren einen Kontrollgang enthält.

Der Erddamm ist also eine spezifische Form eines Staudammes. Der Göscheneralp-Damm im Kanton Uri ist ein solcher Erddamm. Ein bepflanzter Erddamm. 155 Meter hoch und 540 Meter lang. An seinen Füssen ist er sogar 700 Meter lang. Der Kern des Damms besteht aus Erdmaterial und Opalinuston, der beim Bau Ende der 1950er Jahre aus dem Jura hergebracht wurde. Der Opalinuston ist auch heute noch ein gefragtes Gestein: Er gilt laut der Nagra als das geeignetste für ein geologisches Tiefenlager von radioaktiven Abfällen. Die äusseren Schichten (Filterschicht, Übergangszone und aufgeschütteter Stützkörper) bestehen hingegen aus Gestein, das aus der nahen Umgebung der Baustelle entnommen wurde. Insgesamt wurden bis zur Fertigstellung im Jahr 1960 rund 9,3 Millionen Kubikmeter (m³) Material eingebaut.

Nach einem kurzen und steilen Aufstieg halten wir keuchend an und stellen uns in den kühleren Schatten von zwei Föhren.
In einiger Distanz sehen wir etwas, das wie ein Campingplatz aussieht.
Immer noch kein Staudamm in Sicht. Sehnsüchtig schaue ich auf die Landkarte.
Wir kommen ihm nur langsam näher.
Eine leichte Brise kommt auf. Der laue Wind trocknet meinen Schweiss. Inzwischen ist es schon 11:45 Uhr, wir beschliessen, den Schattenplatz für ein Picknick zu nutzen.
Der Geschmack der Karotte ist durch die Wärme etwas fad geworden.
Zusammen mit den Darvidas und etwas Schokolade hilft sie aber, die Energiereserven zu füllen.
Trotz der 25 Grad im Schatten habe ich nach der kleinen Verpflegung Lust auf einen Bialettikaffee.
Es duftet nach frischem Kaffee und trockenen Föhrennadeln.

Wir laufen gestärkt weiter und kommen tatsächlich zu einem Campingplatz an einem See.
Am Horizont hinter dem See sehe ich, wie die Hitze in der Luft flirrt.
Hinter dem Horizont ist der Himmel blau, nach de Saussures Cyanometer 12 Grad blau.
Täusche ich mich, als ich eine grüne Wand in der Ferne sehe?
Ist das ein Hügel oder doch schon der Damm?
Ich schaue mehrmals hin und blinzle dabei in die Sonne.

Wir müssen am linken Ufer entlang. Dort, wo sich eine Herde Kühe verteilt hat.
Die Kühe finden es am Ufer in der Nähe des kalten Wassers wohl auch angenehmer.
Bei einem Holzsteg, der über einen Bach führt, machen Jiaxi und ich Tonaufnahmen.
Eine Kuh kommt neugierig näher und leckt mir einmal über den mit Sonnencrème und Schweiss bedeckten Arm. Jiaxi lacht, aber mir ist die Situation nicht ganz geheuer.

Am Ende des Sees wird uns klar, dass das, was wir seit einer Weile vermuten, Tatsache ist. Schockiert bleiben wir beide kurz stehen.
Vor uns liegt tatsächlich der Staudamm, der den Göscheneralpsee zurückhält, damit in Göschenen die Züge mit Bahnstrom fahren und wir nicht ins Tal gespült werden.
Obwohl er mit sanftem Grün überwachsen ist, wirkt er auf mich monströs gross und bedrohlich.

Ein Erddamm ist anders. Anders als eine Staumauer. Wenn ich eine Staumauer von weitem sehe, wird mir schnell klar, dass ich sehe, was ich sehe. Bei den Staudämmen aus Erde und aus Fels geht dieser Erkennungsprozess immer etwas länger, egal, ob ich wie bei der Göscheneralp zu Fuss unterwegs bin oder wie beim Mattmark-Damm mit dem Postauto. Den Moment der Enttarnung empfinde ich hier, an der Göscheneralp, als unheimlich.

Das Wesen “Erddamm” scheint ein Hybrid zwischen Kultur und vermeintlicher Natur zu sein, ganz im Sinne von Bruno Latour.2 Doch wie definiert sich ein Hybrid genau? Im Metzler Lexikon Kunstwissenschaft steht zum Begriff “Hybridität” folgendes:

Strukturell verkörpert das hybride Prinzip eine Ordnung des Sowohl-als-auch. Anstatt das differente Andere als abzulehnende Konkurrenz oder Bedrohung anzusehen, hat sich Hybridität dem Ideal von Pluralisierung und Grenzüberschreitung verschrieben.3

Der Erddamm erscheint sowohl als (natürliche) Landschaft als auch als gebautes Stauwerk vor unseren Augen. Er verkleidet sich als Natur, schüttet über sich Fels, Erde und Grasböschung, ist im Kern aber aus Asphalt oder Stahlbeton. Somit ist nicht nur das Bild, sondern auch die Materialität dieser Landschaft hybride. Damit ist nicht gemeint, dass der Erddamm halb aus Natürlichem, halb aus Kulturellem besteht, denn dies würde den Dualismus zwischen Natur und Kultur nur verfestigen. Mit der Zuschreibung des “Hybriden” möchte ich vielmehr auf die Unangemessenheit dieser Dichotomie und ihren Begriffen aufmerksam machen.4

Am Dammfuss angekommen, gehe ich kurz in den Grundablass-Stollen hinein. Nach fünf Metern fröstelt es mich.
Der Temperaturunterschied zwischen meinem aufgeheizten Körper und der kühlen Luft im Stollen liegt bestimmt bei gut fünfzehn Grad.
Hat es mich nur wegen der gefühlten Kälte gefröstelt oder auch wegen der Vorstellung, was passieren würde, wenn der Grundablass in dieser Minute geöffnet würde?
Zügig laufe ich zurück zu Jiaxi. Sie hat in der Ferne eine Ziegenherde entdeckt.

Nun beginnt der Aufstieg vom Dammfuss zur Dammkrone.
155 nie enden wollende Höhenmeter. Im Zickzack. Bei 30 Grad in der Sonne.
Bei jedem Schritt spüre ich die Schweisstropfen unter meiner Schirmmütze.
Die letzte lange Gerade.
Ich nehme nochmals etwas Tempo auf und sehe auf einmal den milchig-türkisfarbenen See.

Staudämme und der Erddamm im Spezifischen haben auch etwas gemeinsam mit Staumauern aus Beton. Sie sind Grenzwesen. Mit dem Begriff des ‘Grenzwesens’ will ich auf zwei Gegebenheiten verweisen: Erstens ist das Grenzwesen eng mit dem ‘Grenzobjekt’ verwandt, das ein in der Soziologie beheimateter Begriff ist.5 Ein ‘Grenzobjekt’ ist ein wissenschaftliches Objekt, das in mehreren sich überlappenden sozialen Welten zu Hause ist. Es ist sowohl plastisch genug, um sich an die Bedürfnisse der verschiedenen sozialen Welten anzupassen, als auch robust genug, um eine gemeinsame Identität über die Welten hinweg aufrecht erhalten zu können.6 Zweitens, da ich Abschied nehmen will vom Begriff des ‘Untersuchungsobjekts’, verwende ich den Begriff des ‘Grenzwesens’, der den Staudamm und die Staumauer als Akteure anerkennt.7 Sie bewegen sich also an den Grenzen zwischen sozialen Welten, an den Grenzen zwischen Disziplinen, an den Grenzen zwischen Natur und Kultur und an den Grenzen zwischen Wasser und Luft.

Jiaxi kommt kurz nach mir auf der Krone an, wir setzen uns auf zwei Steine am Rand des Damms und halten einige Minuten inne.
Die in der Ferne sichtbaren Wasserfälle rauschen in unseren Ohren.
Sie speisen den See mit Wasser aus dem Abfluss des Dammagletschers.
Die Schallwellen reflektieren an den Felswänden am Ufer: Der Klang umgibt uns von allen Seiten.

Ich stelle mir vor, wie sich der Klang verändert, wenn das Wasser im Druckstollen kanalisiert wird und dann über die Turbinen läuft.
Das Rauschen wird zu einem Dröhnen.

Erschöpft laufen wir über die Dammkrone Richtung Postautostation.
Das Rauschen wird langsam leiser.

Anmerkungen

  1. Martin, Christiane, Nicole Bischof und Manfred Eiblmaier: Lexikon der Geowissenschaften, Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag 2003

  2. Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen – Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008

  3. Pfisterer, Ulrich (Hrsg.): “Hybridität”, in: Metzler Lexikon Kunstwissenschaft: Ideen, Methoden, Begriffe, Berlin: Springer 2011

  4. Roßler, Gustav: “Kleine Galerie neuer Dingbegriffe: Hybriden, Quasi-Objekte, Grenzobjekte, epistemische Dinge”, in: Kneer, Georg, Markus Schroer und Erhard Schüttpelz (Hg.): Bruno Latours Kollektive, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008, S. 76–107

  5. Star, Susan Leigh und James R. Griesemer, (2016): “Institutionelle Ökologie, 
‘Übersetzungen’ und Grenzobjekte”, in dies.: Grenzobjekte und Medienforschung, hgg. von Sebastian Gießmann und Nadine Taha, Bielefeld: Transcript 2017

  6. Star, Susan Leigh: “This is Not a Boundary Object: Reflections on the Origin of a Concept”, Science, Technology, & Human Values 35/5 2010, S. 601–617

  7. Boogen, Annina: “Grenzwesen”, in: trans Magazin 36, Zürich: gta Verlag 2020

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, geboren 1986, studierte Umweltnatur- und Energiewissenschaften und arbeitet als promovierte Umweltökonomin an der ETH Zürich. Seit 2017 studiert sie berufsbegleitend im MA Transdisziplinarität an der ZHdK. In ihrer forschenden Praxis interessiert sich für sozialwissenschaftliche Fragestellungen, die sie mit künstlerisch-ästhetischen Strategien zur Verhandlung und Reflexion bringt. Zudem ist sie fasziniert von Daten, Klängen und Staudämmen.