“Molekulare Körper” sind kein Phantasma, sie enthalten ein Programm. Gewisse Programme ermöglichen ihnen sogar, Fehler zu ihrem Vorteil zu nutzen. Im Gegensatz zu Systemen besitzen sie dadurch viel mehr Möglichkeiten zur Regulation und Koordination diverser Prozesse. Einige dieser “Molekularen Körper” können mit den entsprechenden Technologien lokalisiert werden, andere erwecken den Anschein, sie seien ort- und zeitlos. Dabei handelt es sich um einen Trugschluss. Auch dann, wenn es sich um ein politisch-soziales [Un]gefüge von “Molekularen Körpern” handelt. Ihre Bewegungen/Prozesse wirken oftmals teleologisch. Doch im Unterschied zu Dominosteinen, die nacheinander umstürzen, wenn der erste einmal gefallen ist, wird die Signalübertragung zwischen “Molekularen Körpern” durch mannigfaltige Wechselwirkungen erzeugt. Gelegentlich entstehen dadurch temporäre Zwischenräume, kurze Momente, in welchen der Code umgeschrieben werden kann.

>P26660.3 RecName: Full=Genome polyprotein; Contains: RecName: Full=Core protein p21; AltName: Full=Capsid protein C; AltName: Full=p21; Contains: RecName: Full=Core protein p19; Contains: RecName: Full=Envelope glycoprotein E1; AltName: Full=gp32; AltName: Full=gp35; Contains: RecName: Full=Envelope glycoprotein E2; AltName: Full=NS1; AltName: Full=gp68; AltName: Full=gp70; Contains: RecName: Full=p7; Contains: RecName: Full=Protease NS2-3; Short=p23; Contains: RecName: Full=Serine protease NS3; AltName: Full=Hepacivirin; AltName: Full=NS3P; AltName: Full=p70; Contains: RecName: Full=Non-structural protein 4A; Short=NS4A; AltName: Full=p8; Contains: RecName: Full=Non-structural protein 4B;

Arzt: [rattert die Werte runter die auf dem Dokument stehen]
Die Transaminasen waren ein wenig erhöht.
Doch das wird sich durch die Therapie wieder normalisieren.
Ansonsten die Eiweisselektrophorese – das war in Ordnung.
Dann die Schilddrüsenwerte –

Man hat überprüft, ob Auto-Antikörper vorhanden sind,
im Sinne von Antikörpern gegen Zellstrukturen –
auch den Rheumafaktor haben wir abklären lassen –
Alles negativ.

CMV –
das haben Sie mal durchgemacht, ist aber schon lange her.

EBV –
haben Sie auch mal durchgemacht, aber das ist eine alte Geschichte.

FSME –

ID9606/2a-c: CMV?

Arzt: Das Humane Cytomegalievirus.
Das ist ein relativ verbreitetes Virus.
Die Übertragung erfolgt meistens in der Kindheit.
Wenn man sich als erwachsene Person infiziert, dann kann es zu
Problemen führen.
Aber als Kind macht das meistens keine Probleme.
In der Kindheit wird es in der Regel nicht einmal bemerkt.

ID9606/2a-c: Aha.

Arzt: FSME ist auch negativ. Das ist die Frühsommer-Meningoenzephalitis, die durch Zecken übertragen wird. Auf Rickettsien haben wir Sie auch untersucht. Auch das war negativ. Dann haben wir noch das Parvovirus B19 überprüft – da sind IgG vorhanden aber keine IgM – das ist auch eine alte Geschichte, das haben Sie wahrscheinlich auch als Kind gehabt. Das sind alles so Virus-Erkrankungen, die im Erwachsenenalter Probleme machen können, hingegen als Kind weniger. Bei einigen spürt man kaum etwas.

ID9606/2a-c: Hmm.

Arzt: Dann haben wir noch nach Enteroviren gesucht, die auch nicht
vorhanden waren.
[kurze Pause]
Also, im Prinzip sieht alles gut aus.

ID9606/2a-c: Hmm.

Arzt: Das EBV gehört zur Gruppe der Herpes Viren –
das hier übrigens auch, das CMV –
[zeigt mit dem Kugelschreiber auf das Dokument mit den Testergebnissen]
Wenn sich diese Viren einmal im Körper befinden, bleiben sie ewig.
Die leben ewig.
Also lebenslang.

Doch in der Regel verursachen diese Viren selten Probleme.
Meistens nur, wenn das Immunsystem nicht mehr richtig funktioniert.

ID9606/2a-c: Hmm.

Arzt: Voilà, ihre Kopie. [reicht das Papier mit den Testergebnissen über
den Schreibtisch]

ID9606/2a-c: [studiert schweigend das Dokument]

 

[kurze Werbeeinblendung]

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Biology is poised to change the world
Because good health is the most fundamental need we have
Only a few companies are mentally and technically prepared for
all these changes
At AmGen we are more than ready
We will not only work in the Biocentury – We will lead it
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ID9606/2a-c: [schaut vom Dokument auf] Was sind denn Coxsackie –

Arzt: Coxsackie A1-22,24 und B1-6?
Die gehören zur Gattung der Enteroviren.
Je nach Serotyp können die auch eine Hepatitis auslösen.

ID9606/2a-c: [kann mit dieser Erklärung nicht viel anfangen] Aha.

Arzt: [zeigt mit dem Kugelschreiber auf einen Wert im Dokument]
Aus diesem Grund haben wir das hier testen lassen.

ID9606/2a-c: [weiss nach dieser Erklärung nicht viel mehr als vorher] Ok.

Arzt: Heute werde ich Sie noch einmal zur Blutentnahme überweisen.
Damit wir wissen, mit welchen Ausgangswerten wir die Therapie starten.
[Es entsteht eine Pause, beide blicken auf das Papier mit den Testergebnissen, das sie in den Händen halten]

 

>MSTNPKPQRKTKRNTNRRPQDVKFPGGGQIVGGVYLLPRGPRLGVRA TRKTSERSQPRRQPIPKDRRSTGKSWGKPGYPWPLYGNEGLGWAGWLL SPRGSRPSWGPNDPRHRSRVGKVIDTLTCGFADLMGYIPVVGAPLGGVA RALAHGVRVLEDGVNFATGNLPGCSFSIFLLALLCITTPVSAAEVKNISTG YMVTNDCTNDSITWQLQAAVLHVPGCVPCEKVGNTSRCWIPVSPVAVQ QPGALTQGLRTHIDMVVMSATLCSALYVGDLCGGVMLAAQMFIVSPQH HWFVQDCNCSIYPGTITGHRMAWDMMMNWSPTATMILAYAMRVPEV IIDIIGGAHWGVMFGLAYFSMQGAWAKVVVILLLAAGVDAQTHTVGGST AHNARTLTGMFSLGARQKIQLINTNGSWHINRTALNCNDSLHTGFLASL FYTHSFNSSGCPERMSACRSIAFRVGWGALQYEDNVTNPEDMRPYCWH YPPRQCGVVSASSVCGPVYCFTPSPVVVGTTDRLGAPTYTWGENETDVFL LNSTRPPQGSWFGCTWMNSTGYTKTCGAPPCRIRADFNASMDLLCPTD CFRKHPDTTYIKCGSGPWLTPRCLIDYPYRLWHYPCTVNYTIFKIRMYVG GVEHRLTAACNFTRGDRCNLDRDRSQLSPLLHSTTEWAILPCTYSDLPAL STGLLHLHQNIVDVQFMYGLSPALTKYIVRWEWVVLLFLLLADARVCAC LWMLILLGQAEAALEKLVVLHAASAASCNGFLYFVIFFVAAWYIKGRVVP LATYSLTGLWSFGLLLLALPQQAYAYDASVHGQIGAALLVLITLFTLTPGY KTLLSRFLWWLCYLLTLAEAMVQEWAPPMQVRGGRDGIIWAVAIFCPG VVFDITKWLLAVLGPAYLLKGALTRVPYFVRAHALLRMCTMVRHLAGG RYVQMVLLALGRWTGTYIYDHLTPMSDWAANGLRDLAVAVEPIIFSPM EKKVIVWGAETAACGDILHGLPVSARLGREVLLGPADGYTSKGWSLLAP ITAYAQQTRGLLGTIVVSMTGRDKTEQAGEIQVLSTVTQSFLGTTISGVL WTVYHGAGNKTLAGSRGPVTQMYSSAEGDLVGWPSPPGTKSLEPCTCG AVDLYLVTRNADVIPARRRGDKRGALLSPRPLSTLKGSSGGPVLCPRGH AVGVFRAAVCSRGVAKSIDFIPVETLDIVTRSPTFSDNSTPPAVPQTYQVG YLHAPTGSGKSTKVPVAYAAQGYKVLVLNPSVAATLGFGAYLSKAHGINP NIRTGVRTVTTGAPITYSTYGKFLADGGCAGGAYDIIICDECHAVDSTTIL GIGTVLDQAETAGVRTVLATATPPGSVTTPHPNIEEVALGQEGEIPFYGRA IPLSYIKGGRHLIFCHSKKKCDELAAALRGMGLNAVAYYRGLDVSVIPTQ GDVVVVATDALMTGFTGDFDSVIDCNVAVTQVVDFSLDPTFTITTQTVPQ DAVSRSQRRGRTGRGRLGIYRYVSTGERASGMFDSVVLCECYDAGAAWY ELTPAETTVRLRAYFNTPGLPVCQDHLEFWEAVFTGLTHIDAHFLSQTKQ SGENFAYLTAYQATVCARAKAPPPSWDVMWKCLTRLKPTLVGPTPLLYR LGSVTNEVTLTHPVTKYIATCMQDLEVMTSTWVLAGGVLAAVAAYCLAT GCVCIIGRLHVNQRAVVAPDKEVLYEAFDEMEECASAALIEEGQRIAEML KSKIQGLLQQASKQAQDIQPAVQASWPKVEQFWAKHMWNFISGIQYAG LSTLPGNPAVASMMAFSAALTSPLSTSTTILLNILGGWLASQIAPPAGATG FVVSGLVGAAVGSIGLGKVLVDILAGYGAGISGALVAFKIMSGEKPSMEDV VNLLPGILSPGALVVGVICAAILRRHVGPGEGAVQWMNRLIAFASRGNHV APTHYVTESDASQRVTQLLGSLTITSLLRRLHNWITEDCPIPCSGSWLRDV WDWVCTILTDFKNWLTSKLFPKMPGLPFISCQKGYKGVWAGTGIMTTRC PCGANISGNVRLGSMRITGPKTCMNIWQGTFPINCYTEGQCVPKPAPNFK IAIWRVAASEYAEVTQHGSYHYITGLTTDNLKVPCQLPSPEFFSWVDGVQI HRFAPIPKPFFRDEVSFCVGLNSFVVGSQLPCDPEPDTDVLTSMLTDPSHI TAETAARRLARGSPPSEASSSASQLSAPSLRATCTTHGKAYDVDMVDANL FMGGDVTRIESESKVVVLDSLDPMVEERSDLEPSIPSEYMLPKKRFPPALP AWARPDYNPPLVESWKRPDYQPATVAGCALPPPKKTPTPPPRRRRTVGLS ESSIADAQQLAIKSFGQPPPSGDSGLSTGADAADSGSRTPPDELALSETGSI SSMPPLEGEPGDPDLEPEQVELQPPPQGGVVTPGSGSGSWSTCSEEDDSV VCCSMSYSWTGALITPCSPEEEKLPINPLSNSLLRYHNKVYCTTSKSASLRA KKVTFDRMQALDAHYDSVLKDIKLAASKVTARLLTLEEACQLTPPHSARS KYGFGAKEVRSLSGRAVNHIKSVWKDLLEDTQTPIPTTIMAKNEVFCVDP TKGGKKAARLIVYPDLGVRVCEKMALYDITQKLPQAVMGASYGFQYSPAQ RVEFLLKAWAEKKDPMGFSYDTRCFDSTVTERDIRTEESIYRACSLPEEAH TAIHSLTERLYVGGPMFNSKGQTCGYRRCRASGVLTTSMGNTITCYVKAL AACKAAGIIAPTMLVCGDDLVVISESQGTEEDERNLRAFTEAMTRYSAPPG DPPRPEYDLELITSCSSNVSVALGPQGRRRYYLTRDPTTPIARAAWETVRH SPVNSWLGNIIQYAPTIWARMVLMTHFFSILMAQDTLDQNLNFEMYGAV YSVSPLDLPAIIERLHGLDAFSLHTYTPHELTRVASALRKLGAPPLRAWKS RARAVRASLISRGGRAAVCGRYLFNWAVKTKLKLTPLPEARLLLSSWFTV GAGGGDIYHSVSARPRLLLLGLLLLFVGVGLFLLPAR

Bei einer Untersuchung ordnete mein Kinderarzt aufgrund der auffällig erhöhten Leberwerte mehrere Tests an. Laut den Ergebnissen lag weder eine Gallenwegserkrankung vor, noch war der Tumormarker erhöht. Als auch alle weiteren Tests zu keinem Ergebnis führten, griff der Arzt auf ein antikörperbasierendes Nachweisverfahren zurück. Drei Jahre zuvor hatte man ein Virus entdeckt, welches als die Hauptursache einer Posttransfusionshepatitis galt, die nicht auf die beiden bereits bekannten Erreger, das Hepatitis-A-Virus und das Hepatitis-B-Virus zurückgeführt werden konnte. Mein Arzt vermutete, dass dieser Erreger für meine erhöhten Alanine-Aminotransferasen verantwortlich sein könnte. Zwei Wochen später hatten wir die Ergebnisse des ELISA HCV Antibody-Tests. Der Test zeigte die gesuchten Antikörper in meinem Blut an. Doch der Arzt wollte auf Nummer sicher gehen, und wir liessen einen Recombinant Immunoblot Assay (RIBA) als sekundären Bestätigungstest machen. Zu seinem Entsetzen war auch dieser Befund positiv. Positiv auf HCV-Antikörper. Mein Entsetzen hielt sich in Grenzen. Ich fühlte mich gesund und hatte schlichtweg keine Ahnung, was HCV-Antikörper sind.

Da der Arzt aufgrund des Immunoblots nicht zwischen einer akuten, chronifizierten oder ausgeheilten Erkrankung unterscheiden konnte, ordnete er einige Zeit später eine Reverse-Transcriptase-Polymerase-Chain-Reaction (RT-PCR) an. Die Reverse-Transkriptase-Polymerase-Kettenreaktion wird sowohl in der Forschung, als auch in der Diagnostik verwendet. Sie besteht aus der Kombination von zwei molekularbiologischen Methoden und wird für den Nachweis von RNA genutzt. Reverse Transkriptasen (RT) sind Enzyme, die die Umschreibung von RNA in DNA katalysieren. Die Polymerase-Kettenreaktion (PCR) ist eine Methode, um die Erbsubstanz DNA in vitro zu vervielfältigen. Durch die PCR wird sehr rasch ein einzelnes DNA-Molekül millionenfach amplifiziert, d.h. vermehrt. Diese Methode wird zum Beispiel für die Erkennung von Erbkrankheiten und Virusinfektionen, für das Erstellen und Überprüfen genetischer Fingerabdrücke, für das Klonieren von Genen und für Abstammungsgutachten verwendet. Sie zählt zu den wichtigsten Technologien der modernen Molekularbiologie, und viele wissenschaftliche Fortschritte auf diesem Gebiet (z. B. im Rahmen des Humangenomprojekts) wären ohne diese Methode schlichtweg nicht möglich gewesen. In meinem Fall wurde diese molekularbiologische Technik dafür genutzt, um im Blut direkt nach dem Erbmaterial (HCV-RNA) des Virus zu suchen. Ist die HCV-RNA positiv, hat man Hepatitis C. Ist die HCV-RNA negativ und nur der Antikörpertest positiv, liegt vermutlich eine ausgeheilte Hepatitis C vor. Nebst dem Antikörpertest war auch mein RT-PCR-Test positiv. Ausserdem erbrachte die RT-PCR den Beweis, dass die Infektion nicht akut, sondern bereits chronifiziert war und seit mindestens sechs Monaten bestehen musste.

Es war drei Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer, als mir mein Arzt das Ergebnis verkündete. Einerseits hatte ein sehr grosser und, seit meine Eltern 1979 mit mir aus der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik geflüchtet waren, jahrelang als verbotene Zone geltender Teil der Welt seine Grenzen für mich geöffnet. Ich durfte nun ungestraft in das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion und deren Satellitenstaaten einreisen. In der Schweiz jedoch schienen sich die Grenzen immer mehr zu verschliessen. Die Auswirkungen des Assimilations-Regimes der 1970er- und 1980er-Jahre waren immer noch spürbar und sollten sich weiterhin verschärfen. Obwohl es über zwanzig Jahre her war, dass James Schwarzenbachs Initiative abgelehnt worden war, hatte sie die schweizerische Migrationspolitik für immer verändert.

Schwarzenbach war Inhaber des Thomas Verlag, der faschistische, völkische und antisemitische Schriften publizierte. Im Parlament vertrat er die Zürcher Sektion der “Nationalen Aktion gegen Überfremdung von Volk und Heimat”. Seine Bedeutung als Pionier des europäischen Rechtspopulismus lässt sich sicherlich auf seine Initiative zur Überfremdung zurückführen, die im Juni 1970 zur Abstimmung kam. Mit 75% Wahlbeteiligung konnte sein Referendum einen Rekord verzeichnen, wobei 45% der Stimmen Schwarzenbachs Vorschlag unterstützten. Der Vorschlag hätte, wenn er durchgeführt worden wäre, dazu geführt, dass die Schweizer Regierung ausländische Arbeitskräfte in der Schweiz auf 10% hätte beschränken müssen. Dies hätte die Abschiebung von bis zu 300’000 Ausländer_innen zur Folge gehabt. Obwohl das Referendum nicht verabschiedet wurde, sank die Zahl der verfügbaren Arbeitsbewilligungen. Nicht nur Rechtsaussen-Anhänger_innen hatten das Volksbegehren gutgeheissen, die Zustimmung reichte auch schon damals bis weit ins sozialdemokratische Lager hinein. Bis sich die SVP Ende der 1980er-Jahre des Themas annehmen und es zu einer Triebkraft ihres Aufstiegs machen sollte, wurde in der Schweiz über drei weitere Überfremdungsinitiativen abgestimmt.

Etwa zur gleichen Zeit, als Schwarzenbach mit seiner “Überfremdungs-Initiative” die “schweizerische Identität” bewahren wollte, hatte der Mikrobiologe Ananda Mohan Chakrabarty in den USA durch molekulares Klonen und genetische Rekombination eine neue Spezies für den Multikonzern General Electric kreiert.1 Indem Chakrabarty einen bestehenden Bakterienstamm mit ringförmigen, autonom replizierenden, doppelsträngigen DNA-Molekülen aus einem anderen Bakterienstamm modifizierte, hatte er einen neuen Organismus geschaffen, der fähig war, Erdöl zu zersetzen. Chakrabarty meldete seinen Mikroorganismus 1972 zum Patent an, aber sein Antragwurde zunächst abgelehnt. Doch sowohl die Veränderungen des politisch-ökonomischen Klimas, als auch der technologische Fortschritt führten schliesslich dazu, dass der United States Supreme Court aufgrund einer dynamischen gesetzlichen Auslegung die Bedeutung von Patentgesetzen aktualisierte. Da Chakrabartys Bakterium genetisch verändert und folglich mit dem Ausgangsorganismus nicht mehr identisch war, also in dieser Form in der Natur nicht vorkam und auch sonst alle Anforderungen für das Patentrecht erfüllte, entschied der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten 1980 mit fünf gegen vier Stimmen, dass neue Lebensformen unter die Zuständigkeit des Bundespatentgesetzes fallen, und machte dieses genetisch modifizierte Lebewesen zu einem patentierbaren Produkt.2

Aus patentrechtlicher Sicht stellte die Patentierung von biologischem Material – von Kritiker_innen als Patentierung von Lebewesen bezeichnet – jedoch keine grosse Neuerung dar. Pflanzen und ihre molekularen Bestandteile sind seit dem Plant Patent Act von 1930 patentierbar. Ausserdem hatte das finnische Patentamt bereits im Jahr 1843 ein Patent für einen Mikroorganismus erteilt und Louis Pasteur erhielt 1873 mit dem US Patent No.141072 das Patent für seine gereinigten Hefebakterien. Da aber Chakrabarty einen weiterführenden Beitrag zur Technik erbracht hatte und für eine bereits in anderen Bakterien vorhandene Eigenschaft eine bislang nicht erkannte praktische Verwendung gefunden hatte, ging seine “ölfressende Bakterie” als erstes patentiertes genmodifiziertes Lebewesen in die Geschichte ein.3

Meine Diagnose erfolgte zwölf Jahre später, im Jahr 1992. Ich war sechzehn Jahre alt, als mittels RT-PCR mein Status als meldepflichtige Wirtsperson des Hepatitis C Virus Genotyp 2a-c bestätigt wurde. Die kalifornische Gentechnikfirma, die für die Entdeckung des lange gesuchten Erregers verantwortlich war, hatte diesen bereits 1987 zum Patent angemeldet, und auf GenBank – heute eine der drei grössten DNA-Sequenzdatenbanken – waren bereits 55’169’276 DNA-Basenpaare gespeichert.4 Während das Dispositiv, welches wir heute mit dem Begriff “Biotechnologische Industrie” bezeichnen, schon längst mit den wissenschaftlichen und technologischen Möglichkeiten des genetical engeneering, cloning und der rekombinanten DNA (rDNA) diverse Entwicklungen in der Medizin beeinflusste, erlebte die “Nationale Aktion gegen Überfremdung von Volk und Heimat” — unter ihrem neuen Namen “Schweizer Demokraten” — ein erneutes Hoch. Ein Jahr, nachdem der Kanton Appenzell Innerrhoden mittels eines Bundesgerichtsentscheid dazu gezwungen werden musste, als letzter Kanton das Stimmrecht für Frauen auf kantonaler Ebene einzuführen, zogen die “Schweizer Demokraten” erneut mit fünf Sitzen ins Parlament ein.5

Obwohl mein Hausarzt für die Analyse auf die neuesten Technologien zurückgriff, war seine Art zu denken, zu sehen und zu praktizieren von einem Komplex von Diskursen und Praktiken geprägt, der sich mit der Herausbildung moderner Nationalstaaten etabliert hatte. Sein klinischer Blick speiste sich aus der Vorstellung eines in sich geschlossenen und abgrenzbaren Körpers, der durch disziplinäre Machttechniken formiert und parzelliert werden kann. Er war noch zu sehr in der Vorstellung verhaftet, dass Handlungsfähigkeit eine rein menschliche Eigenschaft sei und dass ausschliesslich Menschen als soziale Akteure in Betracht kommen. Diese Handlungsfähigkeit konnte seiner Ansicht nach nur durch einen gesunden Körper ausgeführt werden, den es gegen Erreger jeglicher Art zu schützen galt. Mit dieser Sicht stellte er keine Ausnahme dar. Denn im Jahr 1992 konnten die wenigsten ahnen, dass sich ein neues Interventionsniveau unterhalb der klassischen biopolitischen Pole “Individuum” und “Bevölkerung” etablieren würde, welches, gekennzeichnet durch Molekularisierung und Digitalisierung, sowohl innerhalb als auch jenseits von Körpergrenzen operiert.

Diese Biomacht, von der auch der französische Philosoph Michel Foucault in seinen Analysen spricht, zielte darauf ab, alle Subjekte in verfügbare Körper zu verwandeln. Foucault konzentrierte sich auf die Technologien der Subjektivierung – Techniken der Subjektformung und das ihnen zugrundeliegende Netz sozialer Beziehungen – welche innerhalb von kulturellen Logiken und der politischen Ökonomie die Verwaltbarkeit des Lebens anstreben.6 Doch “Foucaults Begriff der Biomacht orientierte sich an einem ganz bestimmten Augenblick der Geschichte, der heute [und zum Zeitpunkt meiner Diagnose] bereits der Vergangenheit angehör[t]e.”7

Bis zu diesem Tag begriff ich meinen Körper als Zusammensetzung von Gliedmassen, Organen, Geweben, Blutströmen und Hormonen. Das Selbstverständnis meiner körperlichen Materialität – die Leiblichkeit des Subjekts – war auch vom Zeitalter der klinischen Medizin geprägt. Selbstverständlich hatte ich mitbekommen, dass James Watson und Francis Crick bereits vierzig Jahre zuvor ein räumliches Modell der DNA-Doppelhelix erstellt hatten, das auf den Röntgenbeugungsdaten von Rosalind Franklin und Maurice Wilkins beruhte. Doch die Vorstellung eines “molekularen Körpers” beziehungsweise eines “Denkstils”, in dem das Konzept des “Individuums” vollständig verschwindet oder durch den Fokus auf zelluläre und molekulare Wechselwirkungen im Verborgenen bleibt, war für mich undenkbar. Dies hatte nicht nur damit zu tun, dass ich weder den Zugang noch das Wissen zu den erforderlichen Technologien und Prozessen hatte, die mir das Privileg einer solch partialen Perspektive verschafft hätten. Ein Modell der lebenden Welt, einschliesslich der Welt der Menschen, welches nicht einmal die Hypothese der menschlichen Person erfordert,8 war zu diesem Zeitpunkt auch für die Wissenschaft noch Zukunftsmusik.

Das Human Genome Project (HGP) war erst zwei Jahre alt und steckte noch in den Kinderschuhen. Doch im selben Jahr, indem mir die PCR das Vorhandensein einer molekularen Agency bestätigt hatten, deren Wirkmechanismus einige Jahre später auch meine körperliche Materialität prägen sollte, gab es bereits die ersten ethischen Uneinigkeiten. James Watson, welcher das Human Genome Project zu diesem Zeitpunkt leitete, verliess das Projekt nach einem Streit mit der Direktorin der wichtigsten US-Amerikanischen Gesundheitsbehörde für Biomedizinische Forschung, den National Institutes of Health. Watson lehnte Bernadine Healys Versuche, Gensequenzen patentieren zu lassen, ab. Wie viele menschliche Gensequenzen bis heute patentiert wurden, kann das HGP nicht eindeutig beantworten. Auf der Website der National Institutes of Health wird diese Frage zum HGP folgendermassen beantwortet: “Es ist wahr, dass private Unternehmen in den letzten Jahren Tausende von Patenten auf menschliche Gene angemeldet haben. Wir wissen nicht, wie viele solcher Patente angemeldet wurden, ob die Patente erteilt werden oder ob sie vollstreckbar sind. Die meisten Patentanmeldungen wurden nicht bearbeitet, so dass wir wirklich nicht wissen, wie viel des Genoms zu kommerziellen Zwecken frei verwendet werden kann.”9

Bei meinem ersten Kontakt mit der PCR hatte ich absolut keine Ahnung davon, dass es sich hier um eine vor meinen Augen vollziehende Mutation eines Machttypus handeln könnte. Eine Macht, die in enger Beziehung mit neuen Formen des Wissens stand und sich nicht länger eines klinischen, sondern eines genetischen Blicks auf meinen Körper bediente. Ein Körper, dessen Zerlegung und Rekombination mittels Biotechnologien von mir nicht verstanden wurde, aber dessen molekulare Neuartikulation meine Sichtweise auf biopolitische Problematiken noch nachhaltig prägt. Heute, beinahe dreissig Jahre später, visualisiert die Biomedizin das Leben anders. Das Leben wird hinsichtlich der Eigenschaften und Umsetzungen von kodierenden Sequenzen von Nukleotidbasen und deren Variationen verstanden, die molekulare Mechanismen, die Genexpression und -transkription regulieren.10 Zudem lässt sich heutzutage mit ziemlicher Sicherheit behaupten, dass die Biomedizin und insbesondere die Genetik “[v]erglichen mit der Revolution in der Physik, […] vermutlich das grössere Potential zur Umformung von Gesellschaft und Leben [birgt], da sie auf der Mikroebene vermittels einer Reihe biopolitischer Praktiken und Diskurse in das gesamte soziale Gefüge eingebunden sein wird.”11 Dieser Paradigmenwechsel wird allerdings eine Absage an die humanistische Vorstellung vom Menschen als Mass aller Dinge und als Zentrum aller diskursiven und sozialen Praktiken einfordern. Er wird die Humanities vor ungeahnte Probleme ethisch-politischer Natur stellen.12

Am Tag meiner Diagnose fing gewissermassen auch mein Denkstil langsam zu mutieren an. Der Arzt hatte mir erklärt, was eine Reverse Transkriptase, ein Genotyp und eine PCR sind. Ich hörte zum ersten mal davon, dass Uracil anstelle von Thymin als Base in der RNA auftritt. Und meine Viren schienen aufgrund einer sehr hohen Fehlerrate ihrer RNA-abhängigen Polymerasen so schnell zu mutieren, dass sie extrem viele Varianten ihrer selbst produzierten. Diese Quasispezies halfen dem Virus der Immunantwort des Körpers zu entgehen und stellten einen Grund dar, weshalb nicht nur ich, sondern auch viele andere Menschen eine chronische HCV entwickelten. Ohne Frage, ich war mit einem Schlag im molekularen Zeitalter angekommen. Ein Zeitalter, in dem das Erbmaterial sequenziert, als FASTA-Code gespeichert, in Biobanken gelagert oder in Stammzellenlinien kultiviert werden kann und nicht denselben biologischen Rhythmen unterworfen ist, wie der organische Körper. Ein Zeitalter, in welchem die Biologie nicht mehr als Entdeckungswissenschaft gilt, die Lebensprozesse registriert, dokumentiert und ordnet, sondern als eine Transformationswissenschaft begriffen wird, die Lebewesen aktiv verändern kann. Ein Zeitalter, in dem Moleküle und Lebensprozesse patentiert werden und der technologische Fortschritt in der Medizin bereits die sozialen Identitäten verändert hatte, neue Formen der politischen Assoziation schuf und ständig neue Kapitalkreisläufe eröffnete.

Der Begriff “Individuum” wurde für mich obsolet. Seine lateinische Bedeutung war nicht mehr praktikabel für mich. Das lag aber nicht nur daran, dass mein Blut infektiös war. Die Viren wurden meine Lehrmeister_innen. Durch ihre Anwesenheit und ihre Tätigkeit zeigten mir diese 50nm grossen Hacker_innen, dass mein Körper keine in sich geschlossene Monade, kein organisches Substrat, sondern vielmehr ein Text ist, der gelesen und umgeschrieben werden kann. Ein Text, der nicht einfach eine modulierbare Hardware ist, sondern vielmehr eine molekulare Software, deren Prozesse reprogrammierbar sind. Ein Text, der mit anderen molekularen Softwares immer in Verbindung steht. Selbst dann, wenn es sich nicht um menschliche Tiere handelt. Doch es waren nicht die Viren allein, welche die epistemischen und normativen Grenzen zwischen Menschen und Nichtmenschen für mich auflösen sollten und in mir ein anderes Verständnis für das Verhältnis zwischen Leben und Tod etablierten. Es waren die modernen biotechnologischen Praktiken, die einige Zeit später meinen Alltag bestimmen sollten. Praktiken, die das in den Körper eingeschriebene Wissen von biopolitischen Interventionen erweiterten und kontinuierlich verschoben. In all den Jahren als viraler Symborg befand ich mich stets inmitten von Reprogrammierungen. Eine dieser Reprogrammierungen schien eine neue Form des Kapitalismus darzustellen.

Anmerkungen

  1. Vgl. Chakrabarty, A M, J R Mylroie, D A Friello, und J G Vacca: “Transformation of Pseudomonas putida and Escherichia coli with plasmid-linked drug-resistance factor DNA.” Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 72, Nr. 9 (September 1975): 3647–51

  2. Vgl. Diamond v. Chakrabarty, 447 U.S. 303 (1980) sowie Rabinow, Paul. Making PCR: A Story of Biotechnology. Chicago: University of Chicago Press, 1997. S. 20–21

  3. Vgl. Fuchs, Michael et al. Forschungsethik: Eine Einführung, Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2010, S.142–143

  4. Vgl. “GenBank. Nucleic Acids Res. 45(D1):D37-D42 (2017)”, zugegriffen am 14. Mai 2019
  5. Vgl. Theresa Rohner und Mitbeteiligte gegen Kanton Appenzell I.Rh., BGE 116 IA 359. (1990)
  6. Vgl. Braidotti, Rosi. “Zur Transposition des Lebens im Zeitalter des genetischen Kapitalismus”, in: Weiß, Martin G. (Hg.): Bios und Zoë: Die menschliche Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, Berlin: Suhrkamp 2009, S 109

  7. Haraway, Donna J.: Modest_Witness@Second_Millennium.FemaleMan_Meets_OncoMouse: Feminism and Technoscience, New York: Routledge 1997, S. 174

  8. Vgl. Atlan, Henri : “Biological Medicine and the Survival of the Person”, Science in Context 8, Nr. 1 (1995). pp. 265-277, p. 267 DOI:10.1017/S026988970000199X
  9. “The Human Genome Project FAQ | NHGRI”, zugegriffen am 14. Mai 2019
  10. Vgl. Rose, Nikolas: “Molecular Biopolitics, Somatic Ethics and the Spirit of Biocapital”, Social Theory & Health 5, Nr. 1 (1. Februar 2007): 3–29.
  11. Rabinow, Paul: Anthropologie der Vernunft: Studien zu Wissenschaft und Lebensführung, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004 (1. Aufl.), S 138

  12. Vgl. Braidotti 2009 (wie Anm. 6), S. 108–114

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die ihre Themen oft aufgrund von persönlichen Erfahrungen wählt, steht nicht das Interesse an ihrer “individuellen Person” im Zentrum. Sie versteht sich selbst vielmehr als einen “Kontaktbereich” oder “Bioport” in dem die vorherrschenden Diskurse und Praktiken zusammengeführt werden. Angeregt durch Gloria Anzaldúas poetische Autotheorie und Annie Ernaux’ autoethnografische Literatur wird das schreibende “Ich” in ihren Texten dezentralisiert, um die kulturellen, politischen, ökonomischen und sozialen Verschränkungen herauszuschälen, welche dieses “Ich” – aber auch die sozialen Realitäten vieler anderer Leben prägen. Sie beleuchtet ihre Themen stets aus verschiedenen disziplinären Perspektiven und verwendet eine Kombination aus mannigfaltigen Stimmen als strukturierendes Prinzip. Jana Vanecek hat Kunst, Theorie und Transdisziplinarität studiert.