Sie sieht Dinge, die anderen verborgen bleiben. Sie zeigt Vermeintliches, obwohl sie Anderes meint. Sie wird gern gesehen und gern übergangen; wird gleichzeitig über- und unterschätzt.

d: was ischtänn eigentlich … was isch e figur?
m: öppis wonöd läpt
d: mhm
m: und öppis wome cha … e figur isch zum bischpill öppis wome chan schpile oder so … oder schtatue
d: isch e schtatue e figur?
m: (nickt) wänn chumich äntlich diä chliini zentralenüber? untiä ding … untiä paw patrol dinger … unte ryder mizim auto
d: aber sintänn das … sintas figure?
m: (nickt)
d: und füwas chame figure bruche?
m: zum schpilenebe
d: nur zum schpile ode chame diä … chamesi ä no füranders bruche?
m: neeeeei … zum uufschtele
d: mhm
m: du weisch das alles scho (lacht)
d: aber ich wett wüsse was du … was du seisch
m: schtimmtas dänn alles?
d: ja das schtimmt alles … aber sintänn legomännli figure?
m: hm … neei
d: sind nöd figure?
m: welsi sind us lego und lego isch nöd figur
d: hm … äm … aso wart … demfall isch … also diä fo paw patrol sind figure aber lego isch kä figur
m: moll … oder bapa?
d: aber weisch … chadänn e figur feschideni … feschidenes si? weldu schpilsch doch mängisch pippi langstrumpf mitteme legomännli … aber mängisch isch sgliiche legomännli au öpper ander … mängisch de michel … mängisch pippi langstrumpf … mängisch jim knopf
m: ja
d: chamedänn das mittere figur? chane figur feschidnix si?
m: ja
d: wiso?
m: eifach … eifach heisst eifach
d: mus e figur dänn so uusxee wi diä figur wo si söll si?
m: ja. nei
d: nei … me chanä mit … si mus gar nözo uusxee oder wiä?
m: aber diä paw patrol figure münd gliich uusxee
d: mhm
m: diä wonich so kul finde … undjez wottich diä mal übercho dass ich mit dene cha schpile
d: ja das chaschtu dänn … am geburztag chömmer das dänn …
m: neeeeeei

 

 

Ausgehend von der Frage “was ischtänn eigentlich … was isch e figur?” entfaltete sich der hier transkribierte Dialog. Aufgenommen habe ich ihn heimlich, mit der Sprachmemo-App meines iPhones. Wie der Blick meiner viereinhalbjährigen Tochter jedoch aussagte, wie das beinahe unmerkliche Drehen ihres Kopfes (soweit ich mich erinnere) anzeigte: meine zur Zeit der Aufnahme (abendliche Vorlesestunde) eigentlich unnötige Handbewegung, weg vom Buch, hin zum schwarzen Rechteck auf der Sofalehne, wurde von ihr offensichtlich registriert.

(Die automatisierten Griffe zu diesem körpergewordenen Geschmier in 130-grämmiger anthrazit-schwarzer Hülle, das zwanghaft-beiläufige Ins-Regal-Legen desselben, auf das nach ein paar Minuten “mus no gschnäll öppis luege” folgt, bleiben von ihr höchst selten unbemerkt.)

Meine Tochter ahnte oder wusste, dass in unserem Gespräch noch mehr mitschwingt, als nur blosses Konversieren (“du weisch das alles scho”). Doch besteht nicht ein ganzes Kindererleben, ein ganzes menschliches Erleben überhaupt (als wären wir, die in der Lage sind, diesen Text zu lesen, längst darüber hinweg, ihm entwachsen), nicht zu einem unschätzbar grossen Anteil im Modus des “Ahnens von”, einem “Wissen darum”, dass es immer um mehr oder anderes geht, als um das auf den ersten Blick Ersichtliche, als um das eigentlich Ausgesprochene? Und wie wenige Sekunden der Stunden im Wachzustand sind wir Erwachsenen nicht mit dem Umsetzen unserer behelfsmässigen Strategien beschäftigt (Kategorisieren, Ignorieren, Betäuben, etc.), um nicht andauernd von jenem Ahnen von allem, von jenem Wissen um alles, das mitschwingt, überwältigt zu werden?

Bei aller Frische und Unvoreingenommenheit, die Kinder in sich tragen mögen, wäre es naiv von mir zu glauben, meine Tochter könne mir neue, ungeahnte Erkenntnisse zu grossen Fragen liefern, indem sie mir längst vergessene (und womöglich nie dagewesene, jedoch schmerzlich vermisste) Kinderweisheiten ins Gedächtnis zurückruft. Natürlich hege ich solche Wünsche alchemistischer Natur fast pausenlos, wenn ich Zeit mit ihr verbringe. Und immer wieder ertappe ich mich für einen kurzen Moment im glücklichen Glauben, dank ihrem puren Kindergeist den Stein der Weisen endlich gefunden zu haben.

Bei genauerem Hinschauen wird es jeweils gleichzeitig banaler und komplexer:

Was mir das transkribierte Gespräch mit meiner Tochter vor allem zeigt, ist das fortgeschrittene EingedrungenSein kapitalistischer Kontrollmechanismen in viereinhalb -jähriges Fleisch und Blut. Nein, sie will keine x-beliebigen Legomännchen, mit denen bereits ich als Kind gespielt hatte; sie will “diä paw patrol-”Figuren, und diese “münd gliich usxee”. Sie wird sie beim nächsten Geburtstag kriegen. Alle Anderes haben sie. Sie stehen in der Migros neben der Kasse. Fr. 6.50 das Stück.)

Was mir das transkribierte Gespräch mit meiner Tochter vor allem zeigt, ist die Tatsache, dass ich als Autor mit Ambitionen, in der vorliegenden Publikation vertreten zu sein, auf gut geschmierte Strategie-Hebel zurückzugreifen weiss (und mich nicht davor scheue, mein Kind für meine Zwecke einzuspannen). So kompiliert sich hier ein Text aus dem Transkript eines Gesprächs des Vaters (Autor) mit seiner Tochter (Alltagsexpertin), wobei sich Ersterer im Begleittext (hier in dritter Person von sich selbst schreibend) den Gestus des Nachdenkens und Selbst-Hinterfragens zu geben versucht. Was mir das transkribierte Gespräch mit meiner Tochter vor allem zeigt, ist die Tatsache, dass die Frage “was ischtänn eigentlich … was isch e figur?” Steine ins Rollen bringt, die in Kürze eine Gerölllawine auslösen.

Und so – diese Metapher weiterspinnend – zeigt sich, was die wunderbare Figur der Alltagsexpertin mitunter ausmacht: Die Unverfrorenheit, sich wider besseren Wissens immer wieder unter Geröll und Felsbrocken begraben zu lassen, nach kurzem Liegen auf “undo” zu klicken und weiterzumachen, als wäre nichts geschehen.

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(*1983) studierte Soziale Arbeit an der Hochschule Luzern und Transdisziplinarität in den Künsten an der ZHdK. Nach 10 Jahren als Schlagzeuger, Sänger und Gitarrist in verschiedenen Formationen konzentriert er sein künstlerisches Schaffen heute auf das Schreiben und Performen von Mundarttexten. Sein Debut “acht schtumpfo züri empfernt” erschien 2018 beim Verlag Der gesunde Menschenversand. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Master Kulturpublizistik und im Master Transdisziplinarität an der ZHdK sowie Preisträger des prix netzhdk 2019 der ZHdK-Alumni-Organisation netzhdk.