Als Schachspieler wird jene Entität bezeichnet, die eine Schachpartie spielt. In einer Schachpartie messen sich immer zwei Schachspieler. Mangelt es dem Schachspieler an einem Widersacher, muss er sich selber zum Gegenspieler werden, will er als Schachspieler weiterexistieren. Deshalb verrennt sich der geübte Schachspieler gelegentlich in einer dualen Weltsicht. Er ist es sich daher aber auch gewohnt, autonome Entscheidungen zu treffen. Das Schachbrett, gemeinhin als Austragungsort des Schachspiels wahrgenommen, ist lediglich Anzeigetafel des momentanen Spielstandes. Das Spiel selbst findet ganz in den Köpfen der beiden Schachspieler statt. Ein Schachspielerpaar kann sich also überall dort bilden, wo Schach denkbar ist. Diese überragende gedankliche Fähigkeit lässt sich vorzüglich ausserhalb des Spiels anwenden. Dass sich die Spieler am Spiel selber schulen, dient damit schlussendlich einem Ziel ausserhalb ihres Schachspiels. So verkommt der Schachspieler zur Schachfigur in einer Partie, die ausserhalb von jener stattfindet, die er selber spielt. Die Schachwelt wird zu einem Rhizom von verschachtelten Partien, Spielern und Spielfiguren.

“Das Spiel dient der Regelung von Machtverhältnissen.”

– der Schachspieler

 

Eröffnung: November 1992

30. Partie, Spasski – Fischer 0:1, Belgrad, 5. November 1992, Königsindische Verteidigung (Sämisch-System), E83

  1. d4 Sf6
  2. c4 g6
  3. Sc3 Lg7
  4. e4 d6
  5. f3 0–0
  6. Le3 Sc6
  7. Sge2 a6
  8. h4 h5
  9. Sc1 Sd7
  10. Sb3 a5
  11. a4 Sb4
  12. Le2 b6
  13. g4 hxg4
  14. fxg4 c5
  15. h5 cxd4
  16. Sxd4 Sc5!
  17. Sd5 Lb7
  18. Sf5 gxf5
  19. gxf5 Lxd5
  20. exd5 Lxb2
  21. Kf1 Dd7
  22. Db1 Lxa1
  23. Tg1+ Kh8
  24. Dxa1+ f6
  25. Db1 Tg8
  26. Tg6 Txg6
  27. hxg6 Kg7 0:11

 

Endspiel: Dezember 1992

  1. Nach UNHCR-Schätzungen hat der Krieg zu mittlerweile 3 Millionen Flüchtlingen geführt, davon 1,7 Millionen in Bosnien-Herzegowina.
  2. 06.12.: Bei den Wahlen in Slowenien siegen die Liberaldemokraten mit 22 von 90 Sitzen vor den Christdemokraten (15 Sitze), einer Vereinigten Liste (14), der Slowenischen Nationalpartei (12) und kleineren Parteien mit je bis zu 10 Sitzen. Milan Kučan wird mit 64% vor dem Christdemokraten Bizjak (21%) als Präsident wieder gewählt.
  3. 11.12.: Der UN-Sicherheitsrat beschließt in Resolution 795 die präventive Stationierung der UN-Truppen in Makedonien.
  4. 15.12.: Jugoslawien wird vom Internationalen Währungsfonds ausgeschlossen.
  5. 16.12.: In Genf werden die internationalen Friedensverhandlungen fortgesetzt. In einer vom US-Außenminister Lawrence Eagleburger vorgelegten Liste von Kriegsverbrechern sind auch Milošević, Mladić und Karadžić enthalten.
  6. 18.12.: Karadžić wird vom Parlament der bosnischen Serben als Präsident der “Serbischen Republik Bosnien” bestätigt, nachdem dieses Parlament den Krieg für beendigt erklärt hat. Resolution 798 des UN-Sicherheitsrats verurteilt die Massenvergewaltigungen von Musliminnen und fordert die sofortige Schliessung aller Internierungslager.
  7. 20.12.: Zum zweiten Mal endet die auf ein Jahr begrenzte Präsidentschaft Izetbegovićs. Er weigert sich, das Amt an das kroatische Mitglied des bosnischen Präsidiums weiterzugeben. In Jugoslawien wird am gleichen Tag bei den Wahlen Milošević (56%) vor Milan Panić (34%) als Präsident bestätigt. Von 138 Parlamentssitzen (“Rat der Bürger”) erringt die Sozialistische Partei SPS 47, die Serbische Radikale Partei SRS 34, das Oppositionsbündnis DEPOS 20, die Demokratische Sozialistische Partei Montenegros 17, kleinere Parteien bis zu je 5 Sitze. In Serbien gewinnt die SPS 101 von 250 Sitzen, die SRS 73 und DEPOS 49. Bei den Präsidentschaftswahlen in Montenegro siegt Momir Bulatović vor Kostić.
  8. 29.12.: Der jugoslawische Ministerpräsident Panić wird durch Misstrauensantrag gestürzt, Nachfolger wird Kontić.2

 

Eröffnung: April 2019

  1. Mit weissen Wolken auf dunkelblauen Tönen zeichnet die Dämmerung den Himmel, davor thront stolz das Bundeshaus. Die grosse, grünspane Kuppel hebt sich vom malerischen Hintergrund kaum ab. Auf dem rechten Turm weht die Fahne mit weissem Kreuz auf rotem Grund in einem kühlen, feuchten Wind. Vereinzelt fahren Autos und Fahrräder, meist aber rote Busse am Regierungssitz vorbei. Drinnen brennt noch Licht. Was immer den Bundesplatz passiert, die Überquerung verkommt zum Defilee. Der Frühling naht.
  2. Im Blickfeld des Bundeshauses liegt der Bärenplatz. An dessen Ende, dem Bundesplatz zugewandt, stehen zwei Bäume von Bänken umrahmt, und dazwischen geborgen ist ein Schachbrett auf den Betonboden gemalt. Daneben warten die rund einen halben Meter hohen, hölzernen Schachfiguren auf Spieler.
  3. Mit dem Rücken zum Bundeshaus steht er am Rand des Schachbretts, beide Hände in den Hosentaschen. Ein unauffälliger Mann, der da Schach spielt: Kurze, grau melierte Haare, dunkelblaue Herbstjacke, blaue Jeans und graue Joggingschuhe mit weissen Bändeln. “Ize du schpiile, musse schpiile”, dröhnt die gedrängte Stimme seines Kontrahenten über den Platz.
  4. Vor jedem Zug springt sein starrer Blick von Figur zu Figur über das ganze Spielfeld, dazu malmt sein Unterkiefer, als würde er auf seiner Zunge herumkauen, bevor sich die Lippen zu einer Linie straffen. Die wenigen Schritte vom Spielfeldrand weg springt er beinahe. Er beugt sich vornüber, bekommt die schwere Figur zu fassen und wuchtet sie ein paar Felder weiter. Dabei hebt er immer wieder seinen Kopf und blickt zu seinem Gegner, als wollte er sich vergewissern, dass dieser noch da ist, seinen Zug sieht und anerkennt, dass das Spiel weitergeht. Die Dämmerung dunkelt ein und lässt die vielen Lampen auf dem Platz immer heller werden.
  5. “Spiele”, fordert ihn sein Gegner auf, nachdem auch dieser seinen Zug getan hat und jetzt vereinzelte Töne einer zur Unkenntlichkeit zerfetzten Melodie pfeift. Sie diskutieren das Spiel. Er ist nach getanem Zug rückwärts an seinen angestammten Platz am Rand des Schachbretts zurückgekehrt, mit grossen, fast zögerlichen Schritten. Nun wippt er von einem Bein auf das andere, während sein Blick wieder über das Spielfeld springt. Er zieht. Der Wind nimmt zu.
  6. Während er auf die Reaktion seines Gegners wartet, tippt seine rechte Fussspitze eilig auf den Boden. Die Hände hängen weiterhin in den Hosentaschen, den Rücken lehnt er gelassen nach hinten. Seine Augen aber mustern das Spielfeld.
  7. Sein Gegenspieler knallt ihm die Dame vor die Füsse. “Und ize was mache, kollega, so schpile schach”, sagt sein Gegner mit lauter, selbstgefälliger Stimme. Sie lachen zusammen. Dann beginnen seine Augen wieder zu springen, der rechte Fuss zu tippen und das Lächeln im Gesicht verzieht sich zu einer Geraden. Der Unterkiefer malmt. Schachmatt.
  8. Zum Händedruck kommen sie sich mit ausgebreiteten Armen und geneigtem Kopf entgegen. Sie greifen den Unterarm des Andern und werfen sich lachend ein paar Wortfetzen zu. Sein Gegner geht. Er vergräbt seine Hände wieder in den Hosentaschen, dreht sich um und geht mit gesenktem Kopf dem Bundeshaus entgegen. Zwei, drei Mal schielt er noch zurück, so wie er zu seinem Gegner schielte, als er dessen Figur an den Spielfeldrand stellte. Dann biegt er links in die Schwanengasse ab und verschwindet.

 

Endspiel:

 

 

 

 

Anmerkungen

  1. Wikipedia: Fischer–Spasski (Wettkampf 1992): Spasski–Fischer 0:1
  2. Melčić, Dunja (Hrsg.): Der Jugoslawien-Krieg – Handbuch zu Vorgeschichte, Verlauf und Konsequenzen, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2007, (2. Aufl.)

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(*1984) studiert Kulturpublizistik an der Zürcher Hochschule der Künste. Davor studierte er Jazzkomposition an der Hochschule der Künste Bern. Daneben studiert er in Echtzeit am Leben und berichtet gelegentlich davon, mal in Klängen, momentan aber meist in Worten, nämlich im Stadtanzeiger Olten, wo er als Redakteur arbeitet.