Die Erfindung des ethnologischen Objektes geht auf die Zeit des Kolonialismus zurück, in der nicht nur Menschen, sondern auch ihre “Objekte” oft gewaltsam nach Europa gebracht wurden. Seither wird es, in sich transformierenden Erklärungsmodellen, immer wieder neu konzipiert und befindet sich durch die Überschneidung von historischen und zeitgenössischen Erzählungen in einem räumlichen und zeitlichen Dazwischen. Dieser hybriden Eigenschaft wurde in musealen Repräsentationen allerdings nur selten Raum gegeben. Stattdessen ist das Narrativ meist von einseitigen, westlich-basierten Erzählungen geprägt. Diesen gilt es entgegenstehende Perspektiven hinzuzufügen, sodass transkulturelle, polyperspektivische, uneindeutige sowie sich überlagernde Erzählungen entstehen können. Das ethnologische Objekt kulturkritisch zu verstehen bedeutet auch, das eigene Verwickeltsein und die damit verbundene Verantwortung in seine Darstellung miteinzubeziehen, um so einen verschiebenden Blick zu ermöglichen.

Das ethnologische Objekt konstituiert sich zwischen politischen, ethnologischen, ästhetischen und kulturellen Parametern im Kontext lokaler sowie zeitlicher Verstrickungen. Vor diesem Hintergrund kann es als transitorisches Medium verstanden werden, das in Transformationsprozessen sowie in einem Netz aus Narrativen immer wieder neu gelesen und ausgelegt wird. Es bildet zugleich eine Schnittstelle für Prozesse der Wahrnehmung, Übersetzung und Darstellung. Folglich stellt sich nicht nur die Frage nach den Zusammenhängen sowie Identitätsund Aneignungsprozessen, in denen es auftaucht, sondern auch nach den Praktiken, die mit ihm in der Vergangenheit und der Gegenwart in Verbindung stehen und innerhalb derer es sich formiert. Was war es, bevor es durch die Geschichte der Kolonialisierung in Völkerkundemuseen, ethnologische und anthropologische oder private Sammlungen gelangte? Was ist es heute und was wird es sein?

Viele Museen verstehen sich heute im Besitz eines “kulturellen Erbes”, das sie konservieren, wobei sie nicht nur über immaterielles Wissen und materielles Kapital verfügen, sondern auch Narrative prägen. Sie sind Ort und Speicher des kollektiven Gedächtnisses und arbeiten mit spezifischen Repräsentationsmodi und Identitätspolitiken. Problematisch wird ein solcher Ort, wenn sich die Erzählung fortwährend in den Kontext hegemonialer Geschichtsschreibung einreiht und somit der Stabilisierung westlicher Vorherrschaft sowie der dualistisch geprägten Vorstellung des “Eigenen” und des “Fremden” dient. Die Infragestellung solcher musealen Logiken ermöglicht, bestehende Denkund Blickweisen sowie historische und gegenwärtige Machtverhältnisse zu dekonstruieren. Hierbei müssen überholte Formen der Aufführung, welche beispielsweise lediglich die ästhetischen Komponenten eines Objektes berücksichtigen, wodurch es beinahe kontextund zeitlos erscheint, befragt werden. Denn abgeschnitten von Zeit und Raum mutiert es einerseits zu einem abstrakten Gegenstand, einer Hülle, dessen Inhalt sich lediglich der “Source Communities”, den Provenienzforscher*innen, Kurator*innen und anderen Expert*innen erschliesst, und wodurch eine Bezugnahme durch das “betrachtende Subjekt” nahezu unmöglich wird und das Wissen, auf das es verweist, unzugänglich ist. Jene Distanz ergibt sich insbesondere aus der Lücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart sowie dem fehlenden Dialog zwischen Kulturen. Die Auseinandersetzung mit kulturellen Differenzen, in welchen wir nach dem Ursprung der Begegnung fragen, kann jene fehlende Verbindung einer geteilten Geschichte wieder herstellen. Für den musealen Kontext bedeutet dies die Sichtbarmachung der Sprecher*innen-Position, des historischen und institutionellen Kontextes sowie der Zwänge, denen eine Ausstellung unterliegt. Damit verbunden ist auch die Verweigerung von unabhängigen Beobachter*innen. Die De-Kolonisierung des Ausstellungskontextes bedeutet andererseits, eine neue Perspektive auf das ethnologische Objekt und seine Aktualität in der Gegenwart zu entwickeln: Es ist nicht mehr nur Zeugnis einer vergangenen Zeit und sein Wert ergibt sich nicht einzig aus kolonialen Erzählungen. Museale Darstellungen, in denen lediglich über seinen “ursprünglichen” Kontext und Gebrauch erzählt wird, vermitteln eine absolute, fixierte und homogene Perspektive und verneinen seine Gegenwart. Denn als Gegenstand des Alltags oder Rituals war es in bestimmte soziale und kulturelle Praktiken sowie sprachliche Bedeutungssysteme eingebunden, die seit der Kolonialisierung und im Museum nicht mehr aktiv sind. Nichtsdestotrotz stellt es in seiner Gegenwärtigkeit etwas dar, beispielsweise ein “schlafendes Objekt”1, das gleichsam darauf wartet, geweckt zu werden. Die Aufarbeitung seiner kolonialen Geschichte (und der damit zusammenhängenden Dekontextualisierung), die Auseinandersetzung mit den Fragen, wie es seinen Weg in eine museale oder private Sammlung gemacht hat und wer seine Erober*innen waren, sind zweifelsohne relevant – doch was ist das ethnologische Objekt heute? Für diese Frage scheint es wesentlich, gegenwärtige Praktiken, die mit ihm in Zusammenhang stehen, sowie Konflikte, in die es eingebettet ist, zu beleuchten und dabei vor allem gegensätzliche Erzählungen einzubeziehen.

Die Kogis der Sierra Nevada de Santa Marta im Norden des heutigen Kolumbien zum Beispiel sind nicht nur auf die Rückgabe ihrer Territorien, sondern auch ihrer “Werkzeuge” angewiesen, damit sie die Arbeit der Wiederherstellung des Equilibriums2 fortführen können. In diesem Sinne könnte Restitution gleichbedeutend mit der Anerkennung der Denkweisen nicht-westlicher und indigener Kulturen, der Wiederherstellung eines gesamtgesellschaftlichen Gleichgewichts zwischen Mensch und Natur3 und der Neuordnung globaler Machtverhältnisse sein. Damit einher gehen Wiedergutmachung, Verzicht und Eingeständnis. Vor diesem Hintergrund ist mit der Rückgabe des Objektes die Frage verbunden, wohin und an wen es zurückgegeben wird – ob an eine indigene Gruppe, ein Museum in den ehemals kolonialisierten Ländern oder eine andere Community – und auch jene, was es danach sein wird: immer noch ein Objekt, ein Artefakt, ein Kunst-, Alltagsoder Gebrauchsgegenstand oder vielmehr das Zurückgekommene, Wiedererwachte oder etwas ganz anderes mit einer neuen oder bereits vertrauten Funktion und Eigenschaft? Und was wäre es auf der anderen Seite: der verlorene Schatz, eine neue Lücke oder immer noch ein Kulturerbe, ein Relikt, ein zirkulierendes Objekt oder Anlass für geteiltes Wissen?

Anmerkungen

  1. Siehe: https://blog.uni-koeln.de/gssc-humboldt/schlafende-objekte/ (01.04.2020)
  2. Aus einem Gespräch mit einem Vertreter der Kogis der Sierra Nevada de Santa Marta am 11. Januar 2020.
  3. Für weitere Informationen siehe die Filme “From the Heart of the World” und “Corazón de Agua - Madre de Agua”.

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(*1990) ist freie Autorin sowie Kunst- und Kulturwissenschaftlerin mit den Schwerpunkten Cultural Studies, Museologie und Kunst der Moderne. Sie hat den Bachelor Kunst- und Medienwissenschaft an der Hochschule der Künste Braunschweig sowie den Master
Transdisziplinarität an der Zürcher Hochschule der Künste absolviert und arbeitete als kuratorische Assistenz (2015–2017) sowie als Leiterin Vermittlung (2018–2019) im Cabaret Voltaire.